Reportage
Bienvenido y adiós
Während Ana einen Weg aus ihrer Heimat sucht, wollen Luis und Maggie in Spanien Fuß fassen.
Luis sitzt in einem Restaurant im Madrider Zentrum, vor ihm Sangria und Tapas. Die Kellner grüßen ihn beim Namen, der dritte Wein geht aufs Haus. Der 28-jährige Venezolaner ist ein typischer Latino, sowohl sein Aussehen – groß, dunkel, kantiges Gesicht – als auch sein Naturell – nationalstolz, aufbrausend und leidenschaftlich. „Letzte Woche hat mein Bruder geheiratet. Und ich habe alles verpasst, weil ich Spanien gerade nicht verlassen kann.“ Auf seinem iPhone zeigt er Fotos von einer strahlenden Braut und einem stolzen Bräutigam. Von einer 88-jährigen Großmutter, der es gesundheitlich nicht mehr so gut geht. Und von einer fünfjährigen Nichte, einem hübschen Mädchen, geboren kurz vor seiner Auswanderung. Familie, Freunde und Bekannte feierten zusammen, nur Luis fehlte.
Seit sein Studentenvisum abgelaufen ist, lebt er illegal in Spaniens Hauptstadt. Mittlerweile sind es fünf Jahre. Tagsüber schläft er in einer WG mit sechs Mitbewohnern, abends arbeitet er im Klub – sieben Tage die Woche. Dabei ist seine oberste Regel: Nicht auffallen. Auch Autofahren ist tabu, weil ihn die Polizei dabei anhalten könnte. Luis hat noch einen zweiten Bruder, der seit acht Jahren ebenfalls in Madrid lebt. Auch er kennt die Zeit des Wartens. Erst seit einem Jahr ist er legal in Spanien.
Auf die Frage, was sich Luis vom Leben wünscht, antwortet er ohne Zögern. „Ich will nur meine Papiere endlich bekommen, dann fahre ich meine Familie besuchen.“ Das sind sein Bruder, dessen Familie und zwei Großmütter. Venezuela sei das schönste Land der Welt. Die Natur, die Leute, das Essen – in Luis Worten klingt alles perfekt. Er könnte auf der Stelle in seine Heimat reisen, nur zurückkommen wäre unmöglich. Warum er es nicht trotzdem tut, wenn er Venezuela so liebt? „Weil sie dich dort für ein Handy umbringen.“ Das ist kaum übertrieben. De facto hat Venezuela laut dem UN-Büro für Kriminalität die zweithöchste, gemessene Mordrate weltweit.
Es ist Montag, 22:30 und Luis macht sich auf den Weg zur Arbeit. Mittlerweile weiß er wie das Madrider Nachtleben funktioniert. Das musste er schnell lernen, um überhaupt irgendeine Stelle zu finden. Zum Überleben lieh er sich anfangs Geld von seinem Bruder. Dann jobbte er auf der Straße als Promoter für den Klub, in dem er heute entscheidet. Der Besitzer vertraut ihm. „In allem, was du hier siehst, kannst du ein kleines Stück von mir erkennen. Ich stehe an der Tür, hinter der Bar, organisiere die Events, buche die Tänzer.“ Und trotzdem ist klar: Macht Luis einen Fehler, verliert er seinen Job. Einen anderen bekommt er nicht. Würden die Behörden von seinem jetzigen Arrangement erfahren, ginge sein Chef ins Gefängnis.
Zwei Frauen in Mérida
Als die Amerikanerin Maggie noch in Madrid lebte, feierte sie regelmäßig in Luis Klub. Doch vor einem halben Jahr zog sie nach Mérida nahe der portugiesischen Grenze. Die 60.000 Einwohner Stadt liegt im spanischen Extremadura, eine der ärmsten Regionen Europas. Maggie hat Glück, denn sie ist in einem Teaching Programme, gesponsert von der spanischen Regierung. Damit ist sie fix als Englischassistentin in zwei Schulen angestellt und muss sich weder um Aufenthalts- noch um Arbeitsgenehmigung kümmern. Als sie vor einem halben Jahr nach Mérida kam, hatte sie ein Ziel vor Augen: unter Spaniern zu leben und die Sprache endlich besser zu sprechen. In Madrid war es viel zu einfach, sich in der englischsprachigen Community zu verstecken.
Sehr bald lernte sie ihre Freundin Ana kennen und mit ihr den spanischen Lebensstil. In den ersten Wochen standen Touristenattraktionen auf dem Programm. Zusammen beobachteten sie die Störche, die auf dem altrömischen Aquädukt nisten, besuchten die antike Pferderennbahn und stellten im Amphitheater Gladiatorenkämpfe nach.
„Maximus Decimus Meridius, im Film Gladiator spielt ihn Russel Crowe, hat hier gekämpft“, erklärte Ana dabei stolz.
Antike Ruinen gibt es in Mérida überall, sogar im Haus eines Bekannten. Als er beim Bau eine Säule entdeckte, plante er kurzerhand sein Wohnzimmer um sie herum. Der Regierung meldet er den Fund nicht, sonst müsste er das Land zwangsverkaufen.
Heute ist Maggie zum Mittagessen bei Anas Familie eingeladen. Um zur Casa Cruz am anderen Ende der Stadt zu kommen, spaziert sie über die längste antike Brücke der Welt, die Puente Romano und braucht dafür exakt 16 Minuten. Kurz darauf passiert sie einen tristen Betonblock, ihre Schule. Hier unterrichtet auch Ana, aber nicht wie Maggie täglich, sondern nur einmal die Woche. In guten Wochen zweimal. Vor ein paar Jahren konnte sie noch regelmäßig arbeiten, erhielt ihre eigene Wohnung und ein komfortables Leben. Abends aß sie in einer der Cervecerías Tapas und trank Bier. Heute wohnt sie, wie jeder zweite Spanier zwischen 18 und 34 Jahren, wieder in ihrem alten Kinderzimmer bei den Eltern.
Die empfangen Maggie nun mit Küssen, Umarmungen und einem prall gefüllten Tisch voller spanischer Traditionsspeisen – Jamón, Chorizo, Mejillones Tigre, Croquetas de Salmón y Gambas, Lentejas. Die Diskussion am Tisch wird hitzig, es geht wieder einmal um Politik. „Früher ging es uns viel besser und jetzt wird alles zugrunde gespart. Wir sind die, die unter den unfähigen Politikern leiden,“ beschwert sich Señora Cruz, die wie ihr Mann bereits eine bescheidene, aber sichere Pension bezieht.Nach dem Essen ziehen sich die Freundinnen in Anas Zimmer zurück, schnell vorbei am Gang mit den Fotos, die Ana peinlich sind. Darauf lächelt sie als 6-jähriges Mädchen im Ballettkostüm, an ihrem ersten Schultag, bei ihrem Studienabschluss.
Ana entspricht in vielerlei Hinsicht dem Prototyp ihrer Generation. Sie ist stolz Spanierin zu sein, liebt das Land, die Kultur, die Leute. Den Nationalschinken Jamón beleidigt man in ihrer Gegenwart besser nicht und das Rezept für eine echte Tortilla española kommt direkt von ihrer Mamá. Sie sieht auch spanisch aus – klein, dunkle, gelockte Haare und ein immer lachendes Gesicht. Sie liebt ihre Heimat, aber sucht nach Wegen ins Ausland. Was ihr hier fehlt, vermissen mehr als die Hälfte ihrer Generation: Arbeit.
Spaniens junge Generationen
Wie Ana einen Studienabschluss hat beinahe jeder dritte Spanier. Die paar Jobs, die es gibt, finden sich im Tourismus und erfordern selten höhere Bildung. Andere Wirtschaftszweige wie Produktion oder Forschung sind in Spanien kaum existent. Das ist der Kern des Problems. Während der EU-Schnitt bei 20 liegt, sind 36 Prozent der jungen Spanier überqualifiziert. Die Tendenz ist steigend, mittlerweile studieren hier fast 2 Millionen Jugendliche, deren beste Chance auf eine Arbeitsstelle Emigration ist. Zumindest in den großen Städten Madrid, Barcelona und Valencia ist das der Trend. Deutschland wird zum Nummer Eins Ziel. Im letzten Jahr wanderten etwa 30.000 Spanier dorthin aus, auf der Suche nach Arbeit.
Hier in Mérida haben die Kinder oft noch ganz andere Pläne. „Ich will nicht Englisch lernen. Ich werde Bauer und übernehme die Farm von meinem Papa“, erklärt einer Anas Schüler. Für einige von ihnen geht das gut. Die meisten Familien kämpfen aber jetzt schon darum, ihren Besitz zu erhalten. „Quinquis“ oder „kinkis“ nennt Ana sie. Jugendliche der Unterschicht ohne Perspektive. Ihre Schule ist voll davon. Für sie existiert keine Welt außerhalb von Mérida. Einmal mussten sie auf Schulwoche nach London fahren. Die Kinder hatten vor allem eines in den Koffern – Jámon. Und das Erste, was sie in London suchten, war Weißbrot. Danach ernährten sie sich eine Woche lang vom typisch spanischen Bocadillo, Brötchen mit Schinken.
Maggie und Ana haben einiges gemeinsam. Sie sind beide 27, leben in Mérida und unterrichten Englisch. Neben dem offiziellen Lehren in der Schule kommt der größte Teil ihres Einkommens aus Privatstunden. Denn immer mehr Spanier wollen Englisch lernen, um ihre Jobchancen im Ausland zu verbessern. Doch die meisten greifen lieber auf Muttersprachler zurück und so versiegt auch Anas zweite Einkommensquelle langsam, während Maggie Anfragen zurückweisen muss. Wenn sie dann Ana empfiehlt, lautet die Standardfrage oft enttäuscht: „Und du kennst wirklich keinen Native Speaker, der noch Privatstunden gibt?“ Bei Ana gemeldet hat sich bis jetzt keiner von Maggies abgelehnten Kunden. Was die Spanierin jetzt machen will? „Ich habe mich für ein Teaching Programme in den USA beworben, aber es ist schwierig, da rein zu kommen.“ Mit Spanisch als Muttersprache ist Ana eigentlich prädestiniert dafür in den USA sowohl Englisch, als auch Spanisch zu lehren. Und so könnte ihre Zukunft mit ein bisschen Glück in Maggies Heimat stecken.
Die beschließt unterdessen noch ein Jahr lang Spanien zu genießen, bevor sie daheim ihr richtiges Leben, wie sie es nennt, beginnt. Ana lässt auf der Suche nach Arbeit ihr richtiges Leben hinter sich und Luis träumt davon, endlich ein richtiges Leben zu starten. Auf seiner Facebook Wall postete sein Bruder am Tag der Hochzeit aus Venezuela: Te extrañamos.
- (c) Manuela Szinovatz (3)
- Exil-Venezolaner Luis arbeitet in einem Madrider Nachtclub, vorerst ohne Papiere.
- Amerikanerin Maggie fand bei den Cruz ihre spanische Ersatzfamilie.
- Englischlehrerin – für Ana Traumjob und Kampf zugleich.