Reportage
Endstation Dublin
Ein Jahr lang haben 80 afrikanische Flüchtlinge in und um die St. Pauli Kirche in Hamburg Unterschlupf gefunden. Ende Mai mussten sie das Camp räumen. Den jungen Männern bleiben zwei Möglichkeiten: Die Illegalität oder ein Asylverfahren mit aussichtlosem Ausgang, weil Deutschland für sie eigentlich gar nicht zuständig ist.
Als der europäische Menschenrechtsgerichtshof im vergangenen Frühling auch über seine Zukunft entscheidet, schläft Andreas schon in der St. Pauli Kirche in Hamburg. Auf bescheidenen Holzdielen unter der Empore, mit Blick auf die Kanzel mit dem goldenen Band. Im Garten stehen Kastanienbäume und blühen jetzt im Sommer Rosensträucher, nur wenige Schritte von der Reeperbahn entfernt. Einst haben hier in der Gegend die Matrosen gehaust und bis vor kurzem die leichten Mädchen, heute regieren Fahrräder die Straßen und Investoren den Immobilienmarkt.
Der junge Mann irrt bereits drei Jahre durch Europa. An einem Herbstmorgen 2011 steigt er auf einen der Seelenverkäufer, die von der libyschen Küste nach Lampedusa übersetzen und von denen jeder weiß, dass sie nicht immer am anderen Ende des Meeres ankommen. Unbekannte haben ihn in ein Auto gedrängt und zum Hafen von Tripolis gefahren. In den Wirren des Krieges gegen Machthaber Muammar al-Gaddafi setzen die Kämpfer seine schwarze Hautfarbe mit dem Regime gleich, das es zu bekämpfen gilt. Unmissverständlich machen sie Andreas klar, dass er in Tripolis nichts mehr zu suchen hat. Vier Jahre zuvor erst hatte er sein Heimatland Ghana verlassen, als ein Stammeskonflikt sein Leben und das des Bruders bedroht hatte. Nun muss er wieder fliehen. Er geht an Bord. Sowie tausende vor ihm. Und Unzählige danach.
Kirche als Zuflucht
Seit 1820 steht die St. Pauli Kirche hier, hinter einer Häuserzeile aus der Gründerzeit. Wer vom roten Backsteinbau in Richtung Wasser schaut, sieht die schlaflosen Kräne des Hafens, die ihre Greifarme in den Himmel strecken. Am Betonufer räkeln sich Menschen in der Sonne. Es herrscht die Ruhe einer selbstbewussten Stadt, die sich in der eigenen Unaufdringlichkeit gefällt. Schwer sich auszumalen, dass die Unbeschwertheit nur wenige Meter dahinter, auf dem Gelände der Kirche endet. Dort, wo 80 Flüchtlinge ein Jahr lang Zuflucht gefunden haben.
- © Daniel Wimmer
Andreas sitzt im Garten. Wie ein Schauspieler bei der ersten Sprechprobe erzählt der 30-jährige mit raspelkurzen Haaren seine Geschichte. Schnell und emotionslos. Wie er in Lampedusa ankommt, nach der tagelangen Überfahrt, einem Horrortrip mit Motorschaden, auf einem Boot mit mehr als 1000 Menschen. Und wie er wieder Zuversicht schöpft. „Ich habe überlebt. Und ich war glücklich“, sagt er, lächelt, und schaut, ob das Gegenüber alles verstanden hat. Es sind komplizierte Geschichten, die sie hier erzählen rund um die St. Pauli-Kirche, schreckliche. Ein paar Jungs lungern auf den Plastikstühlen vor dem Gebäude, kicken Steine, boxen sich zum Spaß in die Schultern. Bei jedem von ihnen läuft derselbe Film ab, wenn Andreas zu erzählen beginnt.
Er spricht vom Leben in Tripolis mit eigenem Appartement, einem Job und genug Geld. Von der Mutter und dem Bruder in Ghana, die er damit unterstützen kann. Von der Küste bei Tripolis und dem Meer, von dem die Leute sagten, dass dahinter Europa liege. Ein Europa, von dem sie alle keine Ahnung haben, nur Bilder. Süße Bilder eines besseren Lebens. Erzählte Ausschnitte einer guten Welt. „Aber keiner hat sich ins Boot gesetzt. Denn es ging uns gut. Mir ging es gut“, sagt Andreas. Bis das Regime und damit Libyen auseinander fällt.
Dutzende ehemalige Arbeitsmigranten aus Libyen, nicht nur Andreas hat es nach Hamburg verschlagen. Die Männer nennen sich „Lampedusa in Hamburg“. Als wollten sie im Namen die Stationen ihrer Europareise markieren. Jenen Punkt an dem sie ankamen, und jene Stadt, in der sie bleiben wollen. Die Jahre in den italienischen Flüchtlingslagern haben sie ausgelassen. Mit 300 geben sie ihre Gruppenstärke an, wahrscheinlich sind es weniger. Andreas ist einer von ihnen. Und Biggie, der in seinen losen Hosen, dem gestreiften Shirt und dem Baseballcap den Prototypen des Hip Hop-Fans gibt. Die Afrikaner hoffen auf eine kollektive Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen.
Der absolute Notfall
Vor seiner Kirche steht Pastor Sighard Wilm und zieht an einer Zigarette, die Glocken läuten und übertönen für einen Moment den Lärm des Kinderspiels. Pastor Wilm erzählt keine salbungsvolle Version der Ankunft der Flüchtlinge in seiner Kirche. Kein Zitat der biblischen Herbergssuche, dem sich der großgewachsene Mann mit graumeliertem Haar und geringelten Socken bedient. Er habe fünf obdachlosen Flüchtlingen einen Zeltplatz auf dem Gelände der Gemeinde zugesagt - „Im absoluten Notfall und wenn sich nichts anderes findet“.
Der absolute Notfall tritt ein. Am Ende werden es 80 Männer sein. So viele Körper passen in die Kirche, Kopf an Kopf, wenn das Mindeste an Brandschutzbestimmungen eingehalten wird. Der Großteil der Gruppe aber zieht in private Unterkünfte ein, die Männer in der Kirche im Herbst in Container um. Pastor Wilm mag sich nicht ausmalen, was passiert wäre, hätte die Bevölkerung nicht reagiert. 25.000 Stunden freiwillige Arbeit, so schätzt die Kirche, haben die Menschen des Stadtteils in einem Jahr geleistet. Eine Allianz aus der Kirche, politischen Parteien, Nichtregierungsorganisationen und einfachen Bürgern hat über den Lampedusa-Flüchtlingen einen Schirm aufgespannt und die Politik vor dem Zugriff abgehalten. Denn nach Ansicht des Senats, der Hamburger Stadtregierung, halten sich die Flüchtlinge ohne rechtliche Grundlage in der Stadt auf. Für das von den Flüchtlingen geforderte Gruppenbleiberecht §23 Aufenthaltsgesetz sieht die Stadtregierung keine Veranlassung, zumal dafür der Bundesinnenminister sein Einverständnis geben müsste. Syrische Flüchtlinge wurden damit nach Deutschland geholt. Direkt aus dem Bürgerkriegsland. Für eine versprengte Gruppe, die noch dazu aus Italien nach Deutschland kam, greift der §23 nicht. Eine kollektive Lösung für wenige wäre im Übrigen auch nicht fair den anderen tausenden Flüchtlingen gegenüber, die sich ebenfalls in Hamburg aufhalten, sagt ein Sprecher. Den Lampedusa-Männern bleibe nur, sich in ein Einzelverfahren zu begeben. In einem Testlauf für ein Einzelverfahren haben die Flüchtlinge anonymisierte Fluchtgeschichten zur Prüfung vorgelegt. Die Behörden lehnen die Anträge ab.
Pastor Wilm schüttelt den Kopf. „In welcher Welt leben wir, wenn nur noch Ordnungsnummern gelten?“ fragt er. Mehrfach betont der Pastor das Wort Verhältnismäßigkeit. „Es ist wohl so“, seufzt er schließlich und zieht die Augenbraue hoch, „dass das Gespenst des Ronald Barnabas Schill immer noch umgeht in dieser Stadt“. Der Aufstieg des Rechtspopulisten Ronald Schills 2001 bedeutete für die hanseatischen Sozialdemokraten Demütigung und Zäsur in einem. Seither, sagen viele in Hamburg, taste die Stadtregierung „linke“ Themen“ wie Flüchtlinge nicht mehr an. Nur das mit dem Abschieben habe man sich in einem Wahljahr dann doch nicht getraut. Mit Bildern, auf denen Polizisten Menschen aus einer Kirche zerren. 2013 wählte Deutschland einen Bundestag, 2014 wählt Hamburg eine neue Stadtregierung. Und was sagt der Senat? Man habe von drastischen Aktionen Abstand genommen und auf eine Lösung gemeinsam mit der Kirche gesetzt.
Das erste Mal setzt Andreas in seinem Redefluss ab. Genervt dreht er die Augen in seinem glatten, jugendlichen Gesicht. Die Hoffnung, die er damals, an der Küste Lampedusas hatte, sie musste bald der Erkenntnis weichen, in Europa ein mehr als ungebetener Gast zu sein. „Die Italiener wollten mich nicht, und die Deutschen erlauben mir nicht, hier zu bleiben. Was soll ich tun?“ fragt er dann. Sofort nach der Ankunft auf Lampedusa hatten die italienischen Behörden ihn und die anderen auf ganz Italien aufgeteilt. Allein und Alleingelassen landet Andreas im mailändischen Flüchtlingslager. Weil ihn niemand über seine rechtliche Lage aufklärt, beginnt er selbstständig in Internetcafés zu recherchieren. Dass er in Accra einst Marketing studierte und fließend Englisch spricht, hilft.
Traumvorstellung Europa
Doch die verheißungsvollen Vorstellungen und Bilder von Europa, halten der Realität nicht statt. An ihrer Stelle türmt sich ein rechtliches Hochhaus auf, das sich Dublin-Verordnung nennt, und in dessen Gängen Andreas sich längst verloren hat. Rechtlich gesehen am falschen Ort. Laut der Verordnung (seit 2014 Dublin-III) muss sich Italien um ihn und die anderen Männer kümmern. Wo auch immer ein Mensch das erste Mal seinen Fuß auf europäisches Territorium setzt (oder aufgegriffen wird), soll er auch sein Asylverfahren bekommen - sei er ein Flüchtling, ein Arbeitsmigrant oder ein Glücksritter, das sagen die europäischen Gesetze. Sie sagen auch, dass jeder andere Mitgliedsstaat deshalb Flüchtlinge ins Erstland zurückschicken darf.
- Asylanträge erstes Quartal 2014
Viele hatten im Frühjahr 2013 gehofft, dass der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg ein Zeichen setze und Abschiebungen nach Italien aufgrund systemischer Mängel einstelle. Mehrere deutsche Gerichte hatten dies zuvor getan. Nach Griechenland schieben die Mitgliedsstaaten seit 2011 überhaupt nicht mehr ab. Das bahnbrechende Urteil bleibt jedoch aus, systemische Mängel in Italien erkennen die Richter nicht. Straßburg schafft damit eine Lehrmeinung, an der sich jeder orientiert.
Italien hingegen findet einen eigenen Mechanismus, um die zahlreichen Flüchtlinge loszuwerden. Es schickt sie einfach über die Staatsgrenze. „Männer der Behörde sind ins Camp gekommen“, erinnert sich Andreas. Wer aus Libyen geflohen war, der müsse nun verschwinden, sagten sie. „Sie haben uns einfach rausgeschmissen“. Um die Reiselust zu wecken, stecken die Italiener dem jungen Mann 400 € und Touristenpapiere zu. Ein paar Banknoten als Startkapital für eine Zukunft, um die sie sich nicht mehr kümmern müssen. Andreas schläft ein paar Nächte auf der Straße, streunt herum. Verzweifelt. In seiner Kindheit hat er viel gutes über Deutschland gehört, außerdem lebt dort die größte Gemeinschaft an Ghanaern in Europa. „Hier bleibe ich ganz sicher obdachlos“, redet sich Andreas Mut zu, „In Deutschland habe ich vielleicht eine Chance“. Er kauft sich ein Ticket und setzt sich in den Zug.
Zahlreiche Lampedusa-Flüchtlinge berichten über solch inoffizielle Reiseaufforderungen vonseiten der italienischen Behörden. Rom versuche offenbar, die anderen EU-Mitglieder vor Tatsachen zu stellen und Druck auszuüben. Nach Darstellung der Italiener wird der Stiefelstaat durch seine Mittelmeerküste unverhältnismäßig mit dem Flüchtlingsproblem konfrontiert. Vor allem, seit die Grenzen in Libyen durch die fehlende Zentralmacht offen sind und Schlepper Flüchtlinge aus der halben Welt durch dieses Nadelöhr schleusen. Offizielle Zahlen des europäischen Statistikamts jedoch widersprechen den Italienern – zumindest in ihrer Einseitigkeit. Die meisten Asylanträge absolut nahm 2013 Deutschland entgegen, dann Frankreich, Großbritannien und Schweden. Die ohnmächtigen Bilder der Katastrophen vor Lampedusa und die elenden Schauplätze der überfüllten Flüchtlingslager wirken in Italien trotzdem als Brennglas auf die Diskussion. Und zuletzt haben sich immer mehr Menschen nach Lampedusa gerettet.
- Erstinstanzliche Entscheidungen über Asylanträge im ersten Qaurtal 2014
Kämpferisch und in Schwarz gekleidet sitzt Asuquo Udo auf der Bank eines Cafés auf St. Pauli, an den Nebentischen nippt die Kreativschickeria der Stadt an Espresso und Astra-Bier. Es hat gedauert bis er sich wieder aufgerappelt hat. Als er vor einem Jahr in Hamburg ankommt, ist er am Ende seiner Kräfte angelangt. Zuhause in Nigeria warten Frau und Kinder. Auf den Vater und noch mehr auf das Geld, das er nicht schicken kann. Einst hat er als Journalist gearbeitet, in Libyen dann auf dem Bau. Heute lebt er auf der Straße. Der Einsatz für die Gruppe bestärkt ihn, weiterzumachen.
Starre Verordnung
Wie er nach Europa kam, darüber will Udo nicht sprechen, dass er keine andere Wahl hatte, das betont er mehrfach. „Wir saßen in Libyen in der Falle. Wir wurden dort gejagt!“, sagt er, zeigt auf seinen braunen Unterarm und verstummt zornig. Die Grenzen zu den Nachbarstaaten sind im Herbst 2011 längst geschlossen, Flieger holen sie vom Himmel mit Raketen herunter. Er nimmt einen Schluck Tee und streicht den Ärmel wieder herunter. „Kennen Sie Ban Ki Moon?“ fragt er dann. Der UNO- Generalsekretär hatte nach der Katastrophe vor Lampedusa im Oktober 2013 mit hunderten Toten die EU-Staaten gemahnt, die Menschenrechte für Flüchtlinge zu garantieren. Auch die Freizügigkeit ist ein Menschenrecht. „Reicht es denn nicht, dass wir diese Reise überlebt haben?“, fragt Udo aufgebracht. „Wir fordern humanitäres Bleiberecht. Die italienischen Behörden, nicht wir, haben die Dublin-Verordnung verletzt“, sagt der 49-jährige, der sich einem Einzelverfahren verweigert. Und überhaupt: Was solle er in Italien, wo Italien nicht einmal für die Italiener sorgen könne? „Ich will doch nur mein verpfuschtes Leben wieder auf die Reihe bekommen!“. Auf die wirtschaftliche Perspektive der Flüchtlinge nimmt die starre Dublin-Verordnung aber keine Rücksicht. Ein Baufehler, der dem System gleichzeitig als Säule dient.
Die Lampedusa-Gruppe indes beginnt an den Rändern auszufransen. Ende Mai müssen die Männer das Containercamp neben der Kirche verlassen und sich zwischen Straße und Einzelverfahren entscheiden. Zahlreiche Flüchtlinge wählen zweiteres. Auch Biggie und Andreas haben dem Druck nachgegeben und ein Einzelverfahren angeregt. Bis ihre Anträge geprüft sind, hat Hamburg sie in einem Heim etwas außerhalb der Stadt untergebracht. In fehlerfreiem Deutsch zählen die Burschen die U-Bahnstationen der Linie 1 auf. „Jungfernstieg, Meßberg, Steindorf bis Wandsbek. Bis nach Volksdorf ist es echt weit, “ lacht Biggie. Er der erst in der Kirche und dann in einem Baustellencontainer schlief, freut sich ehrlich über die Ein-Mann-Pritsche im Zweibettzimmer, die nur ihm gehört.
Arbeiten dürfen sie alle nicht. Träumen, eine Zukunft planen? Auch nicht. Den Tag bringt Biggie mit den anderen mit Fußball spielen durch und Deutschlernen, oder er hängt sich an die Geräte im Fitnessstudio. Das Nichtstun ist seine Beschäftigung geworden. Andreas immerhin hat jetzt ein Praktikum angefangen. Eine Werbeagentur will sich um den jungen Mann kümmern. Doch wie lange? Zwölf Männer der Lampedusa-Gruppe haben im vergangenen Jahr im als liberaler geltenden Schleswig-Holstein ihr Glück versucht. Die Männer waren in einer kleinen Moschee untergekommen und hatten sich bei den Behörden gemeldet. Elf der Männer wurden im Einzelverfahren mittlerweile abgeschoben oder sind untergetaucht. Nur einer darf bleiben: Er hat eine Deutsche geheiratet.