Reportage

Physical Disorder oder Urban Culture?

Neoliberale Konzepte der Kriminalprävention richten sich ihrem Wesen nach tendenziell gegen das historisch gewachsene Stadtbild und sagen kulturanthropologischen Erscheinungen des Urbanen den Kampf an. Unübersichtliches Gassenwerk, Spuren menschlicher Nutzung und Graffiti werden als Sicherheitsproblem wahrgenommen - sterile Glasfassaden, Bewegungsmelder und videoüberwachte Zonen hingegen zum kulturstiftenden Element einer neuen Urbanität stilisiert.


Historische Gründe

Wien hat viele Winkel und Nischen   ̶   der hier besprochene Raumtyp ist jedoch besonders markant (siehe Abbildungen). Historisch geht das Springen der Häuserflucht auf die Bauordnung von 1859 zurück. Mit Blick auf das Umbau- und Kanalisierungsprogramm von Hausmann in Paris, wurden städtebauliche Aspekte vermehrt hervorgehoben. Die Ringstraße wurde errichtet  ̶  Niveau und Parzellierung wurden reglementiert  ̶  neue Straßen mussten nunmehr möglichst geradlinig mit einer Breite von acht Klaftern (15,2m) angelegt werden. Da man bestehende Häuserfluchten nicht gänzlich abreißt und vereinheitlicht, kommt es im Zuge eines Hausneubaus zu einer Veränderung der Baulinie und so zum Vor- und Zurückspringen der Häuserflucht (vgl. Stühlinger 2008). Die Verordnung von 1859 prägt bis heute das Aussehen vieler Straßenzüge und Gassen. Es entstand eine spezielle Raumsituation die den Charakter des Stadtbilds ähnlich bestimmt wie eine Skyline. Der Grund für die bauliche Veränderung war vermehrter Verkehr, Bewirtschaftung, Repräsentativität und Kontrolle. Ähnlich wie bei dem etwas früher eingeführten System der Hausnummern (vgl. Tantner 2007), fördert die Bauordnung eine Form elementarer Lokalisierung und Parzellierung. Verwinkelte Gängeviertel sollen aufgelöst, kollektive Einnistungen zerstreut und unübersichtliche Vielheiten zersetzt werden (vgl. Foucault 1994; Wehrheim 2002). Nach Foucault etablierte sich zu jener Zeit eine neue ökonomische und technische Rationalität: eine Antidesertions-, Antivagabondage-, und Antiagglomerationstaktik (ebd. 1994: 183). Deren Fortführung kann heute in der digitalen Codierung von Kommunikation gesehen werden.

Ethnographische Raumanalyse

Die systematische Dokumentation der Hausvorsprünge zeigt ihre aktuelle sozialräumliche Funktion (siehe Abbildungen). Häufig finden sich kleinere Elemente wie Hydranten, Stromkästen, Altkleidersammelstellen oder Kaugummiautomaten; es gibt die Vorsprünge auch mit Fenstern, Türen oder Auslagen; andere verfügen über Sitzbänke, Haltestellen oder Telefonzellen; oft treten sie gemeinsam mit Zufahrten auf. Viele der Stellen dienen als Träger von Werbetafeln, Leuchtreklamen, Plakatwänden und Aufschriften jeglicher Art. Damit einher geht auch die Platzierung von Tags und Throw ups oder anderen Formen von Graffiti und Street Art, sowie deren mehrfache Übermalung und Überstreichung. Es offenbart sich eine spezifische Verdichtung architektonischer Accessoires und urbaner Artefakte. Jedes Element prägt Funktion, Nutzen und Charakter der Stellen. Die Sprünge treten meist als gegenüberliegendes Paar auf. Das Vor- und Zurückspringen der Häuser ist letztlich eine bauliche Abweichung die Heterogenität generiert und die architektonische Grammatik des Straßenbilds durcheinander bringt (vgl. autonome a.f.r.i.k.a. gruppe et al. 2001). Durch das Springen der Baulinie wird die räumliche Gleichförmigkeit  ̶  die monotone, rhythmische Struktur der Gasse  ̶  gebrochen, und bildet, je nach dem von wo man kommt, eine gut sichtbare Fläche oder ein uneinsehbares Eck. Dabei kann das Springen der Häuserflucht als eine Form von physical disorder (vgl. Wilson & Kelling 1982) gesehen werden. Aus dem baulichen Bestreben städtischen Raum neu zu ordnen entstand paradoxerweise zugleich eine Situation architektonischer Unordnung und Unübersichtlichkeit.

Sichtbarkeit und abweichendes Verhalten

Einsehbarkeit und Übersicht sind zentrale Aspekte in der Herstellung räumlicher Sicherheit (Wehrheim 2002). Natürliche soziale Kontrolle (natural surveillance) durch möglichst viele Augen soll das Entdeckungsrisiko erhöhen und die Tatgelegenheitsstruktur verändern. Dieser Ansicht folgen die "Broken Windows" Theorie (vgl. Wilson & Kelling 1982) und der "Crime Prevention Through Environmental Design" Ansatz (vgl. Newman 1996). In beiden Konzepten geht es um die Beschaffenheit des Urbanen und die kriminalpräventive Funktion der Gestaltung baulicher Umwelt. Beleuchtung, Begradigung und Sichtbarkeit bestimmen den Zugang und die Nutzung von Räumen. Laut Broken Windows Theorie zieht ein Bruch der architektonischen Grammatik weitere physische Verwahrlosung an und macht derartige Stellen tendenziell zu Schandflecken und Angsträumen. Dabei werden Graffiti als Zeichen von Kontrollverlust gelabelt: "...the proliferation of graffiti, even when not obscene, confronts [...] with the inescapable knowledge that the environment [...] is uncontrolled an uncontrollable, and that anyone can invade it to do whatever damage and mischief the mind suggests" (Wilson & Kelling 1982: 33).

  • © Robert Rothmann

Graffiti als urbane Kultur

So erscheinen Graffiti weniger als Schrift, Kommunikation und anthropologische Konstante urbaner Kultur, oder gar als "Eruption der Pop-Art“ und „nicht-elitäre Form des abstrakten Expressionismus“ (vgl. Baudrillard 1978), sondern vielmehr als Sachbeschädigung, Eigentumsdelikt und aggressive, visuelle Belästigung. Als optischer Wildwuchs in Form von Neologismen, Signaturen und Logogrammen sind Graffiti postmoderner Ikonoklasmus (AKIM)  ̶  die Auflehnung gegen bürgerliche Identität und Anonymität  ̶  eine "Biokybernetische Self-Fullfilling-Prophecy Weltorgie Ich" (vgl. Baudrillard 1978). In den Augen der Autorität gilt jedes Tag als Indikator für Kriminalität und schnelles Reinigen als effiziente Standardreaktion zur Wahrung der Zeichenhoheit. Abseits der Szene wird Graffiti erst dann wieder als Kulturphänomen (an-)erkannt, wenn es sich um Banksy oder prähistorische Artefakte in Höhlen handelt.

The Culture of Surveillance

Der Ruf nach Sicherheit durch Sauberkeit ist heute Programm. Städte in "westlichen Demokratien" tendieren zur Umsetzung neoliberaler Sicherheitskonzepte. Der öffentliche Raum wird symbolisch besetzt und visuell umkämpft (vgl. Wehrheim 2002). Angestrebt wird ein Feel-Good-Faktor  ̶  eine konsumfreundliche Atmosphäre  ̶ ein hohes subjektives Sicherheitsgefühl. Die Shopping Mal wird zum urbanen Ideal. Law & Order lautet das Motto, Zero-Tolerance die Strategie, private Sicherheitsdienste setzen sie um. Der Graffitikultur wird der Krieg erklärt und jede Alley wird zum potentiellen Crime Hot Spot. Der städtische Raum fügt sich dem Sicherheitsdiskurs  ̶  steril, hell, ökonomisiert und videoüberwacht. Die postmoderne Urbanität ist geprägt durch ausschließende Bestimmungsprinzipien einer überwachten Sozialität. Der Gesellschaftskörper wird risikotechnisch zivilisiert und homogenisiert  ̶ kulturanthropologische Charakteristika der Stadt werden zum kriminalpräventiven Problem. Letztlich erscheint Überwachung als die neue Kultur des Urbanen.


  • autonome a.f.r.i.k.a. gruppe; Blissett, Luther; Brünzels, Sonja (2001): Handbuch der Kommunikationsguerilla, 4. Auflage, Assoziation A, Berlin, Hamburg, Göttingen.
  • Baudrillard, Jean (1978): Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Merve Verlag. Berlin.
  • Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Newman, Oscar (1996): Creating Defensible Space, U.S. Department of Housing and Urban Development, Office of Policy Development and Research, Institute for Community Design Analysis, Center for Urban Policy Research, Rutgers University.
  • Stühlinger, Harald (2008): "Der Anstrich des Gebäudes muss den Augen unschädlich seyn." Die Bauordnung des 19. Jhdts. und ihre Auswirkungen auf Stadtbild und Stadtgestalt von Wien. In: dérive, Heft 31, April-Juni 2008, Schwerpunkt: Gouvernementalität. S. 55 - 60.
  • Tantner, Anton (2007): Die Hausnummer. Eine Geschichte von Ordnung und Unordnung. Marburg: Jonas Verlag.
  • Wilson, James Q.; Kelling George. L. (1982): Broken Windows. The police and neighbourhood safety, In: The Atlantic Monthly, Vol. 249, S.29-38.
  • Wehrheim, Jan (2002): Die überwachte Stadt. Sicherheit, Segregation, Ausgrenzung. Leske + Budrich, Opladen.