Multimedia

Die schwindende Seele Wiens

Jeder kennt sie, fast jeder bemerkt sie, kaum einer beachtet sie. Die Wiener Augustin-VerkäuferInnen. Würde es überhaupt auffallen, wenn sie plötzlich verschwinden? Womöglich erfahren wir es bald.


  • Foto: © Jasmin Sänftner

Das Wiener Stadtbild hat über die Zeit diverse Akteure und Merkmale hervorgebracht, welche den BewohnerInnen abseits von Sehenswürdigkeiten regelmäßig im Alltag begegnen und für viele dessen urbane Identität auszeichnen. Sei es nun die Tabak Trafik oder der Würstlstand des Vertrauens, manches ist beim Schlendern durch's Grätzl kaum noch wegzudenken. Die KolporteurInnen des Augustin, Österreichs erster "Boulevardzeitung", gehören zweifellos dazu. Seit über zwei Jahrzehnten prägen sie den öffentlichen Raum durch ihre Anwesenheit. Nun steht das soziale Projekt vor dem Aus.

Ein Opfer seiner Zeit?

Heutzutage haben quasi alle Printmedien mit rückläufigen Auflagen zu kämpfen. Doch während andere Verlagshäuser dies durch eine Onlinepräsenz kompensieren, ist beim Augustin der direkte Verkauf des gedruckten Werkes unumstößlich in seiner sozialen DNA verankert. Denn verkauft wird die Zeitung ausschließlich von armutsbetroffenen Menschen. Pro abgesetztem Exemplar verbleibt eine Hälfte des Verkaufspreises bei ihnen, vom Rest wird das Projekt finanziert. Der Digitalisierung wird nicht erst seit gestern nachgesagt, eine antisoziale Lebensart innerhalb unserer Gesellschaft zu fördern. Der Augustin droht zu einem Sinnbild dieser Entwicklung zu werden, da ein Wechsel zum rein digitalen Internetauftritt den Tod des Projekts in seiner jetzigen, karitativen Form bedeuten würde. Doch die Ursachen für den stetigen Rückgang an Verkäufen sind - ebenso wie dessen mögliche Konsequenzen - weit vielschichtiger.

Eva "Evi" Rohrmoser, 2002 als Sozialarbeiterin beim Augustin eingestiegen und inzwischen für Administration sowie Öffentlichkeitsarbeit zuständig, benennt mehrere Gründe: "Zum einen kann man vielleicht die Gratiszeitungen in den U-Bahn Stationen nennen. Zum anderen gibt es neben dem Augustin inzwischen einfach auch insgesamt mehr Straßenzeitungen in Wien." Ob ein direkter Zusammenhang besteht, lässt sich pauschal zwar nicht beurteilen, würde zumindest zeitlich jedoch Sinn ergeben. Die besten Verkaufsjahre waren 2005 & 2006. 2004 erschien erstmals die Gratiszeitung "heute", gefolgt von "Österreich" im Jahr 2006. Seitdem sind die Auflagenzahlen kontinuierlich zurückgegangen. Erfolgte hier ein Wandel der Kaufbereitschaft zugunsten kostenloser Alternativen?

Quelle: Augustin

Eine falsche Masche?

Außerdem sei es in den letzten Jahre zu einem regelrechten "Bashing von OsteuropäerInnen, vorwiegend RumänInnen, Roma und Sinti" gekommen, berichtet Rohrmoser, weil dies "zum Teil auch eine Gruppe ist, die den Augustin in einer Weise verkauft, mit der sich die KundInnen nicht wirklich gut identizifieren können." Immer häufiger soll es zu Polizeikontrollen kommen. Vergangenen März berichtete der Kurier beispielsweise von einer Anzeige gegen einen Verkäufer, weil dieser vor einem Supermarkt in aufdringlicher Weise um Geld gebettelt und KundInnen durch das gesichtsnahe Vorhalten des Augustin behindert habe. 150€ Strafe wurden verhängt. Gleichzeitig mehren sich in den Kommentaren solcher und vergleichbarer Meldungen Beschwerden von Passanten über bettelartiges, gar aggressives Verhalten, mit dem versucht wird, die Zeitung loszuwerden. Sogar von Fake-VerkäuferInnen wird gesprochen, da diese Personen meist nicht vom Augustin akkreditiert sind und teils veraltete Ausgaben anbieten. Auch die Polizei rechtfertigt ihr Vorgehen damit, dass derartige Verkaufstaktiken häufig nur als Vorwand zum Betteln dienen.

Laut Frau Rohrmoser besitzen beide Seiten eine Gleichberechtigung in der Wahrnehmung: "Es gibt VerkäuferInnen, die haben ihre Verkaufsplätze schon gewählt. Egal ob sie dreimal am Tag Personenkontrollen haben und sich ausweisen oder legitimieren müssen, sich damit an ihren Standorten unwohl fühlen und nur mehr so lange vor Ort sind, bis sie das Geld zusammenhaben." Genauso gesteht sie jedoch ein, dass es Personen gibt, die den Augustin gar nicht verkaufen dürften, es aber trotzdem tun: "Wir können nur bis zu einer gewissen Zahl VerkäuferInnen aufnehmen und wenn die keinen Platz bei uns finden, dann kommen sie irgendwie zu Zeitungen. Wenn diese zum Vollpreis irgendwo erworben wurde, steigt dadurch der Verkaufsdruck und man muss aufs Schnorren zurückgreifen, da nur das Trinkgeld bleibt." Dass die KundInnen dies als unangenehm empfinden, sei nachvollziehbar, erkläre sich laut Rohrmoser aber zumindest durch ebenjene Not: "Je lästiger, desto verzweifelter."

Akkreditierte VerkäuferInnen tragen stets einen gültigen Ausweis mit Foto, Namen und einem roten Stempel. Quelle: Augustin

Soziales Problem, soziale Lösungen?

Um der rückläufigen Auflage Herr zu werden, wandte man sich als erste Gegenmaßnahme an die Medien, um in breitem Umfang auf den prekären Status der Zeitung hinzuweisen. Auch auf Social Media wird versucht, vermehrt potenzielle InteressentInnen zu erreichen. Im Zuge dessen fand Anfang März eine Supporterskonferenz mit über 100 Leuten aus den unterschiedlichsten Bereichen statt, wo versucht wurde, Lösungsansätze zu finden. Ein Ergebnis davon ist beispielsweise die Kampagne "Nimm 2", bei der dazu aufgerufen wird, zwei Zeitungen zu kaufen und eine weiterzuverschenken. "Das hat so ein bisschen was in Gang gesetzt. Wir wissen aber noch nicht, ob das eine Nachhaltigkeit hat", resümiert Rohrmoser. Denn im Zuge der medialen Berichterstattung steige die Auflage oft an und sinke danach wieder ab.

Der Augustin wird nicht subventioniert. Langfristige Strategien lassen sich aufgrund geringer Ressourcen entsprechend nur schwer umsetzen. "Würde die Auflage steigen, dann könnten wir uns vielleicht über kurz oder lang jemand fixen für PR leisten, was vermutlich g'scheid wäre", spekuliert Rohrmoser. Darauf angesprochen, ob nicht Subventionen oder anderweitige Sponsorings ein möglicher Ausweg wären, erklärt sie: "Ich glaube es gibt uns deswegen noch, weil wir keine Subventionen nehmen. Der Grund ist ganz klar und nachvollziehbar die redaktionelle Seite. [...] Aber die zweite Seite ist, dass wir auf sozialarbeiterischer Ebene, würden wir Subventionen kriegen, mit ganz vielen der Verkäuferinnen und Verkäufer nicht arbeiten könnten, weil die nicht zum förderbaren Kreis der Gemeinde oder des Bundes zählen. Und dagegen würden wir uns total verwehren." In diesem Jahr unterstützt auch die berüchtigte Gürtelconnection den Augustin mit Einnahmen aus ihren Events. Der Verein, so Rohrmoser, hätte sich aber von selbst gemeldet. Ansonsten verlaufe die Suche nach möglichen Sponsoren bisher eher schleppend, da schlichtweg das nötige Netzwerk an Kontakten fehle.

Wenn die letzte Seite gelesen ist

Was wären die möglichen Folgen einer Schließung? Wie wird damit umgegangen? "Es verunsichert die Verkäufer und Verkäuferinnen immer wieder enorm", erzählt Frau Rohrmoser. Man wende sich bei Problemen frühzeitig nach außen um einem potenziellen Ende entgegenzusteuern, bewirke dadurch jedoch auch häufig überdramatisierte Berichterstattung mit furchterregenden Headlines. "Jetzt sind die Verkäuferinnen und Verkäufer in ihren Lebensrealitäten immer wieder mit Unsicherheiten und Bindungsgeschichten konfrontiert gewesen, sodass sie darauf sehr sensibel reagieren", schildert sie weiter. Entsprechend suche man das Gespräch um zu beruhigen, was vor allem Aufgabe der vier angestellten SozialarbeiterInnen sei, wie Frau Rohrmoser anmerkt. Das geht unter anderem im Vertriebsbüro der Redaktion, welches eher einem Gemeinschaftsraum gleicht. Darin können sich tagsüber alle aufhalten, Kaffee trinken und miteinander reden. Man könne den Blickwinkel der Leute dort wieder etwas "geraderücken", meint Rohrmoser. Denn sich etwas anderes zu suchen, das sei für den Großteil eher unrealistisch, bedauert sie weiter: "Für die VerkäuferInnen, die wir haben, gibt es keine wirkliche Alternative." Wenn es um den Augustin selbst geht, klingt ihre Prognose gleichermaßen aussichtslos wie kämpferisch: "Wir haben tatsächlich keinen Plan B. Diese 14 Menschen, die angestellt sind beim Verein, [...] bilden auch den Vorstand des Vereins. Insofern haben wir die Möglichkeit bei uns selber zu sparen. Also Zusperren ist keine Option." 

4 Verkäufer, 3 Fragen, verschiedene Antworten - © Jasmin Sänftner / Niklas Schneider

Die Seele einer Stadt

Neben sozialkritischen Beiträgen oder Geschichten aus den Wiener Grätzln, bietet die vielseitige Zeitung auch Kultur, Rätselecken, Literatur und sogar einen Veranstaltungskalender zum Herausnehmen, dessen Events nach Höhe des Eintrittspreises sortiert sind. Doch nicht nur auf inhaltlicher Ebene ist der Augustin notwendig. "Zum anderen macht die Zeitung vom sozialen Aspekt her einen totalen Sinn, weil VerkäuferInnen Geld lukriern, das sie zum Überleben brauchen, aber auch den öffentlichen Raum in dem Sinne nutzen, dass sie da Menschen kennenlernen können, die ihnen weiterhelfen", macht Rohrmoser deutlich. Es gibt außerdem noch eine dritte Ebene, die jedoch vielen vermutlich nicht einmal bewusst ist. Sie hat mit der Stadt selbst zu tun. "Es wird der öffentliche Raum bespielt, von Verkäufern und Verkäuferinnen, die ihren Raum gestalten. Die ihn mit Energie ausstatten, die Leute begrüßen. Es brechen ja laufend diese Dinge weg, wo man beieinander steht und tratscht. [...] Das leisten in vielen Fällen auch Verkäufer und Verkäuferinnen. [...] Sie fungieren auch ein Stück weit als soziale Kontrolle. Auch wenn man ihnen oft vorwirft, dass sie vor Lebensmittelgeschäften bei den Einkaufswägen stehen. Aber damit schauen sie auch darauf, dass diese Einkaufswägen nicht überall auf dem Parkplatz herumstehen. Sie machen das Leben in vielen Fällen einfach praktischer. Und wenn's auf den Hund oder auf die Kinder schauen. Das passiert ja! Und das in einer Großstadt! Cool!", schließt Frau Rohrmoser lächelnd ab.

Nächstes Jahr würde der Augustin sein 25-jähriges Jubiläum feiern. Konkrete Pläne für Feierlichkeiten gibt es bisher nicht. Es müsse geschaut werden, wie man das aktuelle Jahr übersteht.

Weiterführende Links