Berlin
In Berlin treffen die Piraten und Realität aufeinander
Die Fraktion der Piraten sitzt seit einem halben Jahr im Berliner Landtag. Die Zustimmung für Quereinsteiger nimmt weiter zu aber auch die Kritik wird lauter. Piraten und Establishment müssen sich einander annähern.
Letztes Jahr zog die Piraten Partei in Berlin mit 7,4 Prozent der Stimmen ins Abgeordnetenhaus ein. Auf Bundesebene werden sie derzeit mit mindestens zehn Prozent gehandelt. Andere Parteien, viele Künstler und auch ein Großteil der Medien haben ein Problem im Umgang mit den Piraten. In den Medien wird gerne über Entgleisungen einzelner Mitglieder berichtet, womit wiederum die Piraten ihre liebe Not haben. Im Fall des Berliner Abgeordneten Martin Delius, der als Realo unter den Piraten gilt, zeigt sich der Nachholbedarf im Doppelspiel Politik und Medien besonders drastisch. Sein Vergleich zwischen dem derzeitigen Siegeszug der Piraten mit dem Aufstieg der NSDAP zwischen 1928 und 1933 wird in den deutschen Medien am Überkochen gehalten. Medien und Politik haben noch nicht damit umzugehen gelernt, dass die Piraten keine vollkommene Partei im klassischen Sinn sind, die die gesamte gesellschaftliche Breite abdeckt und haben deshalb Probleme die Piraten zu erfassen.
Nach Sven Regeners Hasstirade in einem Radiointerview auf Bayern 2 gegenüber der Gratiskultur im Internet veranlasst nun auch andere Künstler gegen die Ideen der Piraten auf die Barrikaden zu steigen. Im aktuellen Spiegel streitet der Berliner Piratenabgeordnete Christopher Lauer mit dem Musiker Jan Delay über das Urheberrecht, die Musikindustrie und Tauschbörsen. Auf einen gemeinsamen Punkt kommen die beiden dabei nur selten, auch weil sie aneinander vorbeireden. Der Eine scheitert an der Realität des Internets, der Andere an der Realität der Musikindustrie.
Und täglich ging einer über Bord...
Auf der realpolitischen Ebene, wo die Piraten nun angekommenen sind, müssen die sie nun einiges an Lehrgeld bezahlen. Die Zustimmung im Wahlvolk hat darunter noch nicht gelitten.
Das Bundesschiedsgericht hat sich zum Ausschluss des Spitzenkandidaten der Piraten in Mecklenburg-Vorpommern, Matthias Bahner, entschlossen. Nachdem sich das Landesschiedsgericht für einen Verbleib des ehemaligen NPD-Mitglieds in der Partei entschieden hatte, wurde die Entscheidung auf Bundesebene nicht bestätigt. Der Ausschluss wurde damit begründet, das Bahner falsche Angaben gemacht habe und die Partei erst durch Medienbericht über seine Vergangenheit in der NPD erfuhr.
… aber viele heuern neu an
Derzeit hält die Parteipartei bundesweit bei über 25.000 Mitgliedern. Allerdings sind die Hälfte von ihnen säumige Zahler, wenn es um den Beitrag geht. In anderen Parteien wäre das ein Ausschlusskriterium, bei den Piraten herrscht dagegen Kulanz. Einzig, wer von seinem basisdemokratischen Recht der innerparteilichen Mitbestimmung gebraucht machen will, muss den Jahresbeitrag nachreichen. Am Wochenende hat jeder deutsche Pirat am Bundesparteitag in Neumünster die Gelegenheit zur Nachreichung und Mitbestimmung.
Heiteres Kandidatenfinden
Doch nicht zur Wahl als Bundesgeschäftsführer wird sich der Berliner Abgeordnete Martin Delius stellen. Nach seinem NSDAP-Vergleich hat er freiwillig auf eine Kandidatur am Bundesparteitag 2012.1 in Neumünster verzichtet. In Berlin wird es derzeit für den Landesvorsitzenden Hartmut Semken eng. Drei führende Funktionäre aus der Landespartei fordern in einem offenen Brief seinen Rücktritt, nachdem Semken auf seiner privaten Website ein Ende der Diskussionen um mögliche Parteiausschlüsse forderte. Was im Internet bis jetzt noch als unbedachte Wortmeldung abgetan und ignoriert wurde, wird bei den Piraten mittlerweile auf die Goldwaage gelegt.