Analyse
Herr Jie und die Grundrechte
Zwei chinesische Staatsbürger haben sich unter Berufung auf die Europäische Grundrechtecharta an den Verfassungsgerichtshof gewandt. Der nahm die Klage zum Anlass für ein richtungsweisendes Erkenntnis. Den Antragstellern selbst hat das aber wenig gebracht.
Herr Jie wird am 3. November 2010 verhaftet, er ist Chinese und hat keine aufrechte Aufenthaltsbewilligung für Österreich. Am nächsten Tag stellt er in der Einvernahme bei der Polizei einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Asylgrund gibt er an, er habe sich in China hoch verschuldet, ihm drohe daher Gefängnis. Frau Fengije hat ähnliche Probleme. Sie ist im März 2010 nach Österreich eingereist und hat einen Asylantrag gestellt. Im Verhör gibt sie zu Protokoll, sie habe in China eine Polizistin verletzt und könne deshalb nicht mehr zurück.
Die Anträge von Frau Fengije und Herrn Jie werden abgewiesen. Das Bundesasylamt sagt, sie hätten sich während der Einvernahmen in zahlreiche Widersprüche verstrickt. Dem schließt sich im Berufungsverfahren auch der Asylgerichtshof an, der befindet, dass es ihrem Vorbringen an Plausibilität mangelt. Seit der Bundesgesetzgeber den Instanzenzug zum Verwaltungsgerichtshof abgeschafft hat, können Asylsuchende sich als letzte Möglichkeit nun nur noch an den Verfassungsgerichtshof (VfGH) wenden. Das machen viele, denn der Asylgerichtshof arbeitet schlecht. Viele seiner Urteile ergehen nach dem Copy-Paste-Verfahren, auf die Argumente der Kläger wird oft nicht eingegangen. Im Verfahren von Herrn Jie und Frau Fengije etwa, hat das Gericht auf eine mündliche Verhandlung verzichtet.
Der VfGH und das Europarecht
Die Masse an Asylverfahren bringt auch den Verfassungsgerichtshof an den Rand seiner Kapazität. Die 14 Richterinnen und Richter mussten sich 2009 mit 3.449 Klagen aus Asylverfahren beschäftigen, das waren 63% aller an den Gerichtshof herangetragenen Fälle. Er hat kaum Zeit sich eingehend mit allen Anliegen zu befassen, kritisiert aber die Entscheidungsfindung des Asylgerichtshofes immer wieder scharf. In einem Fall warf er ihm etwa das „Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit“ vor. Die meisten Klagen werden aber dennoch abgewiesen.
Frau Fengije und Herr Jie hatten also von Anfang an schlechte Karten, vor allem auch, weil sich ihr Anwalt auf die Europäische Grundrechtecharta berief. Bisher hatte sich der Verfassungsgerichtshof stets geweigert europäisches Recht auszulegen. Im Gegensatz zum deutschen Bundesverfassungsgericht hat der VfGH von Anfang an den absoluten Vorrang von Gemeinschaftsrecht gegenüber der nationalen Rechtsordnung anerkannt. Während die Richter in Karlsruhe mit den sogenannten „Solange-Urteilen“ Bedingungen für die Weiterentwicklung der Union aufstellten, hielt man sich am Judenplatz in Wien mit der Auslegung der eigenen Machtbefugnis immer schon eher zurück.
Doch nun hat der österreichische Verfassungsgerichtshof, weltweit der älteste seiner Art, für Aufsehen gesorgt, indem er den Fall der beiden chinesischen Staatsbürger zum Anlass nahm, seine Judikatur entscheidend weiterzuentwickeln. Zu erwarten wäre gewesen, dass der VfGH sich für nichtzuständig erklärt, da „das Unionsrecht im Allgemeinen keinen Prüfmaßstab für seine Entscheidungen bildet.“ Für dessen Auslegung ist nach seiner bisherigen Auffassung nämlich ausschließlich der Gerichtshof der Europäischen Union zuständig.
Das hat in der Vergangenheit bereits zu Problemen geführt: 1998 untersagte der Verfassungsgerichtshof den österreichischen Behörden sich in ihren Verordnungen direkt auf Gemeinschaftsrecht zu berufen, da der VfGH das EU-Recht nicht prüfen dürfe, der Europäische Gerichtshof (EuGH) aber wiederum die österreichische Verordnung nicht aufheben könne. Doch nun stellten die Höchstrichter vielmehr fest, dass die Europäische Grundrechtecharta kein Teil der EU-Verträge sei und damit auch vom VfGH selbst angewendet werden könne.
Die Grundrechtecharta
Die Charta sollte ursprünglich als Teil des Verfassungsvertrages ratifiziert werden. Nachdem dieser aber gescheitert war, wurde sie separat in Geltung gesetzt. Vielen geht sie mit ihren Freiheiten aber zu weit. Polen und Großbritannien haben sich von vornherein geweigert, sie zu unterschreiben. Die Tschechische Republik will demnächst sogar austreten. Der EuGH verlangt von den Mitgliedsstaaten, dass Verfahren in denen Unionsrecht berücksichtigt werden muss, ähnlich zu führen sind, wie gleichartige Fälle im nationalen Recht. Ein französischer Arbeiter, der seinen österreichischen Arbeitgeber klagt, darf also nicht wesentlich anders behandelt werden, als sein österreichischer Kollege.
Aufgrund dieses so genannten Äquivalenzgrundsatzes meint nun der VfGH, dass er in solchen Fällen die Grundrechtecharta anzuwenden hat, wenn es entsprechende österreichische Bestimmungen für österreichische Fälle gibt. Zu den österreichischen Grundrechtsquellen zählen etwa die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die im Verfassungsrang steht, oder das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 (StGG). Wenn eines dieser Gesetze also ein vergleichbares Grundrecht enthält, so der Gerichtshof weiter, müsse er die Charta wie ein Bundesverfassungsgesetz anwenden.
Was ändert sich nun?
Im entsprechenden Erkenntnis, so heißen die Urteile des Höchstgerichtes, heißt es dazu: „Der Verfassungsgerichtshof kommt daher zum Ergebnis, dass auf Grund der innerstaatlichen Rechtslage der Äquivalenzgrundsatz zur Folge hat, dass auch die von der Grundrechte-Charta garantierten Rechte vor dem Verfassungsgerichtshof als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte gemäß Art. 144 bzw. Art. 144a B-VG geltend gemacht werden können und sie im Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta einen Prüfungsmaßstab in Verfahren der generellen Normenkontrolle, insbesondere nach Art. 139 und Art. 140 B-VG bilden.“
Die Entscheidung bringt einige bemerkenswerte Neuerungen: Der VfGH bewertet nun österreichische Rechtsvorschriften wie Gesetze, Verordnungen oder Bescheide direkt anhand der zum Unionsrecht gehörenden Grundrechtecharta, „wenn er zweifelsfrei dazu in der Lage ist“. In unklaren Fällen will er jedoch - wie bisher - dem EuGH Fragen zur Auslegung der Charta vorlegen. Außerdem spricht sich der VfGH, auf Basis unionsrechtlicher Bestimmungen und analog zu Art. 139 und 140 B-VG, selbst das Recht zu, nationale Vorschriften aufzuheben, wenn sie der Charta widersprechen. Diese Entscheidung ist jedenfalls kontrovers, da sie sich hauptsächlich auf Rechtsanalogien stützt und im Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) selbst keine Entsprechung findet.
Der Verfassungsrechtler Bernhard-Christian Funk bezeichnet diese Entscheidung als „Meilenstein in der Entwicklung der Grundrechte-Judikatur“ und sieht nun in Österreich einen beinahe „vollständigen Grundrechtsschutz“ gegeben. Diese Vervollständigung haben die Großparteien seit dem Inkrafttreten des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920 aufgrund ideologischer Unterschiede bisher nicht zustande gebracht, weshalb auch das StGG nachwievor in Geltung steht.
Im Zusammenhang mit Funks Aussage stellt sich aber die Frage, ob er mit dieser euphorischen Bewertung nicht über die tatsächlichen Feststellungen des VfGH hinausschießt. Denn dieser hat gleichzeitig betont, die Anwendbarkeit der Grundrechtecharta gelte „jedenfalls dann, wenn die betreffende Garantie der Grundrechte‐Charta in ihrer Formulierung und Bestimmtheit verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten der österreichischen Bundesverfassung gleicht.“
Doch alles beim Alten?
Wenn Funk nun davon spricht, dass EU-Grundrechte, die die österreichische Verfassungsordnung bisher überhaupt nicht kennt, wie diverse Gleichbehandlungsgebote oder das Streikrecht, vor dem VfGH einklagbar seien, so darf dies doch bezweifelt werden. Der EuGH hat nämlich festgestellt, dass der Äquivalenzgrundsatz nur gilt, „sofern diese Klagen einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund haben.“
Der VfGH wird in Zukunft also wohl nur solche Bestimmungen der Charta zur Bewertung heranziehen, die ähnliche Entsprechungen in der österreichischen Rechtsordnung haben. Dabei kann es natürlich zu gewissen Abweichungen kommen, wirklich neue Grundrechte sind aus der Charta aber mangels Äquivalent nicht anwendbar. Da eine Klage gegen eine Verletzung des Rechtes auf einen Kollektivvertrag auf Grund österreichischer Verfassungsbestimmungen nicht möglich ist, weil solch ein Grundrecht nicht existiert, wird man sich also auch nicht vor dem VfGH auf die entsprechende Bestimmung der Grundrechtecharta berufen können. Vor den EuGH wiederum können Einzelpersonen nur in Ausnahmefällen ziehen.
Präjudiz ohne unmittelbare Wirkung
Die hauptsächliche Neuerung liegt also darin, dass nunmehr österreichische Gesetze mit Unionsrechtsbezug – und das sind mittlerweile die allermeisten – vor dem VfGH nicht nur genauso behandelt werden, wie rein autonome österreichische Vorschriften, sondern auch anhand der entsprechenden Grundrechte aus der Charta überprüft werden. Der Verfassungsgerichtshof hat bereits angekündigt, die Frage, ob eine österreichische Rechtsvorschrift in „Durchführung des Rechtes der Europäischen Union“ erlassen wurde, weit auszulegen. In Zeiten, in denen der Nationalrat kaum noch Gesetze ohne Bezug auf EU-Richtlinien oder Verordnungen erlässt, hat sich der Verfassungsgerichtshof somit vor einem drohenden Bedeutungsverlust gerettet, indem er seine Prüfkompetenz über den allein österreichischen Rechtsbereich hinaus ausgedehnt hat.
Für Herrn Jie und Frau Fengije allerdings, hat das höchstrichterliche Erkenntnis keine guten Nachrichten gebracht. Der VfGH hat darin zwar bestätigt, dass sie sich in ihrer Klage auf die Grundrechtecharta berufen dürfen, aber auch gleichzeitig erkannt, dass sie in ihren darin verbrieften Rechten nicht verletzt wurden. Sie werden daher wohl demnächst abgeschoben.