Moskau

Die russische Seele braucht einen Psychiater

Am Tag des Sieges feiert Russland seine Vorstellung davon, wie es gerne sein würde.


Russland ist eine Großmacht die international respektiert wird, das Ausland zittert vor seiner militärischen Macht und die ganze Welt dankt den russischen Helden für die Befreiung vom Faschismus. Jedes Jahr wird in Russland am 9. Mai, dem "Tag des Sieges", dieses Spektakel zelebriert: Eine große Militärparade über den Roten Platz die live im Fernsehen übertragen wird, von zehntausenden Schaulustigen bejubelt, auf der Tribüne Ehrenplätze für hochdekorierte Veteranen des "Großen Vaterländischen Krieges". Schon Wochen vorher ist Moskau voller Plakate, die an die Heldentaten der Kriegszeit erinnern, auf vielen Autos sind Aufkleber "Danke Opa für den Sieg". Auch in den anderen Städten und sogar kleinen Dörfern finden Paraden statt, den ganzen Tag über wird gefeiert, bis der Ehrentag am Abend mit einem großen Feuerwerk zu Ende geht. Der Tag des Sieges ist in Russland so etwas wie Weihnachten, Ostern und Neujahr zusammen, der wichtigste Feiertag des Jahres also.

Das klingt alles schön und erhebend, hat nur einen Schönheitsfehler: Mit der Realität - den historischen Ereignissen und der heutigen Geopolitik - hat die Inszenierung durch das Putin-Regime nicht mehr besonders viel zu tun. Der Feiertag zeigt auch die Schizophrenie und Gespaltenheit dessen, was im Ausland gerne als "Russische Seele" bezeichnet wird. Die Russinnen und Russen wissen, wer sie gerne wären. Sie wissen aber gleichzeitig, dass sie und ihr Land dieser Vorstellung in keiner Weise entsprechen.

Die Armee feiern und sich dann vor dem Wehrdienst drücken

Beginnen wir bei der militärischen Inszenierung: Ohne seine Atomwaffen, wäre Russland heute weit davon entfernt eine militärische Großmacht zu sein. Die Ausrüstung ist veraltet, moderne Waffen sind nicht in ausreichender Zahl verfügbar. Bis vor kurzem war die Armee, laut eigenen Angaben, nicht einmal in der Lage, ihre Rekruten ausreichend zu ernähren. Die Erfahrungen des Krieges mit Georgien im Jahr 2008 haben dazu geführt, dass die Armee einer großangelegten Reform unterzogen wurde, die - glaubt man Experten - entweder noch nicht abgeschlossen oder irgendwo stecken geblieben ist. Die russische Rüstungsindistrie ist so veraltet, dass inzwischen sogar Autos lieber im Ausland bestellt weren als sie bei russischen Firmen zu kaufen. Und das Atom-Arsenal wird  älter und älter, ohne dass brauchbare Nachfolge-Modelle in Sicht wären. 

Der Militärexperte Alexander Golz beschreibt die Situation in einem Kommentar so: "Sie tun so, als wäre die Parade eine Angelegenheit des russischen Ruhms und der internationalen Wahrnehmung: Als wäre Bataillone von Soldaten im Stechschritt und Kolonnen von gepanzerten Fahrzeugen mit Raketen, die vor 30 Jahren hergestellt wurden, notwendig wären, um den Nationalstolz wiederzubeleben".


Am Tag der Parade wird so getan, als seien die Russen stolz auf ihre Armee und den großen militärischen Ruhm. An den restlichen 364 Tagen versuchen zumindest die Familien mit Söhnen alles Mögliche, um ihre Kinder vor dem Einrücken zu bewahren: Die russische Armee hat weltweit eine der höchsten Todesraten von Soldaten in Friedenszeiten, Rekruten werden zur Zwangsarbeit herangezogen, von Vorgesetzten und älteren Soldaten drangsaliert, gequält und manchmal zu Tode gefoltert.

Immer wieder gibt es Berichte, dass junge Soldaten getötet werden, um ihre Organe zu verkaufen. Egal ob diese Berichte wahr sind oder nicht: Jeder in Russland hält solche Aktionen zumindest für möglich. Russland feiert und tut so, als hätte es eine starke und mächtige Armee. Gleichtzeitig wissen die meisten Russen und Russinnen, dass diese Vorstellung nicht stimmt.


Falsche Veteranen am Roten Platz

Ein weiterer beliebter Auto-Aufkleber rund um den 9. Mai: "На Берлнн", also "Nach Berlin", die Aufschrift auf sowjetischen Panzern während des Krieges. Alte Männer und Frauen paradieren mit ihren Orden durch die Stadt und werden mit Blumen beschenkt - eine nette und rührende Geste. Jedes Jahr verkündet die Staatsspitze aufs Neue, dass jetzt endlich alle Veteranen des Krieges in ordentlichen Verhältnissen leben würden und zumindest ein eigenes Zimmer oder eine eigen Wohnung haben. Und jedes Jahr gibt es neue Medienberichte die ziegen, dass diese Versprechen noch immer nicht eingehalten werden. 67 Jahre nach Kriegsende ist der Staat immer noch nicht in der Lage, sich um die Veteranen zu kümmern, die angeblich die wichtigsten Staatsbürger sind.

Laut offiziellen Angaben sind die jüngsten Kriegsveteranen 88 Jahre alt. Bei meinem Spaziergang durch die Stadt hatte ich den Eindruck dass viele dieser ordensbehängten Männer und Frauen deutlich jünger sind. Für Empörung im russischen Internet, sorgt im Moment das Bild dieser Frau, die am Tag des Sieges auf der Ehrentribüne am Roten Platz stand: Die Uniform ist falsch und die Orden gehören jemand anderem. Die Russen und Russinnen hätten gerne Helden, aber sie sorgen nicht dafür, dass ihre lebenden Helden geehrt und Ernst genommen werden. 

Nazi-Opfer werden entschädigt, Stalin-Opfer nicht

Bei der Inszenierung gibt es noch andere Schönheitsfehler: Tatsächlich wurde der Tag des Sieges erst 1965 zum Feiertag erklärt. Unmittelbar nach Kriegsende, wurden die aus Europa heimkehrende Soldaten nicht gefeiert sondern mussten, glaubt man neueren historischen Berichten, mit Benachteiligungen rechnen: der große Führer (вождь) Stalin misstraute den Soldaten, die mit eigenen Augen gesehen hatten, wie es im verteufelten kapitalistischen Ausland wirklich aussieht. Auch die Rolle von Stalin als genialem Heerführer und Strategen ist bei Historikern, um das freundlich auszudrücken, umstritten. In der Öffentlichkeit gibt es keine Art von kritischer Auseinandersetzung mit dem Krieg, seinen Folgen oder gar den Verbrechen des stalinistischen Regimes. Es reicht den damaligen faschistischen Feind zu verteufeln, um so von möglichen Flecken in der eigenen Vergangenheit abzulenken.

Was abstrakt klingt hat konkrete Auswirkungen. Zum heurigen Tag des Sieges bekamen Veteranen 5.000 Rubel ausbezahlt, etwa 130 Euro. Ehemalige KZ-Insassen und, NS-Zwansgsarbeiter und ihre Angehörigen bekamen ebenfalls zwischen 1.000 und 5.000 Rubel. Ehemalige Häftlinge des GULAG oder andere Opfer des stalinistischen Terrors bekamen nichts. Das Dekret über die Auszahlung dieser Gelder war übrigens das erste offizielle Dokument, das Wladimir Putin nach seiner Angelobung unterschrieb. Und das ist kein Zufall.

Vorwärts in die Vergangenheit: Putin 3.0

Putins Regime nützt den zweiten Weltkrieg als Projektionsfläche, um die Bevölkerung an der Nase herumzuführen. Er verspricht alles, was die Russinen und Russen gerne hätten und wären: Ein international geachteter Staat mit starker Armee und sozialer Gerechtigkeit. Gleichzeitig vermittelt die Führung: Erreicht werden kann das nur mit Putin. Putin ist ein ebenso genialer Führer wie Stalin, die Probleme des Landes sind nur auf eine ausländische Verschwörung zurückzuführen, Russland ist einzigartig und mit niemandem vergleichbar und wer diesen Kurs in Frage stellt, ist ein Feind des Volkes. 

Dementsprechend sind die Feiern zum Tag des Sieges pure Geschichtsklitterung. Die Führung benützt die Ereignisse vor 67 Jahren, um ihre politischen Ziele zu vermarkten und von den eigenen Fehlern abzulenken. Wer spricht noch über die gescheiterte Armee-Reform, wenn die glorreichen Panzer und Raketen über den roten Platz donnern? Wer spricht darüber, dass die Rüstungsindustrie veraltet ist, wenn man die Atomraketen in der Innenstadt bestaunen kann? Wer spricht darüber, dass Russland international nur mehr in der zweiten Liga spielt und hinter den neuen aufsteigenden Großmächten Asiens immer weiter zurückfällt, wenn man sich als Retter der Welt vor den faschistischen Monstern feiern kann? Und wer kommt auf die Idee, dass Zusammenarbeit mit dem Ausland besser sein könnte als Konfrontation, wenn die Führung so eindrucksvoll vor Augen führt, dass nur ein militärisch starker Staat international ernst genommen wird?


Ehrlicher Umgang mit der Vergangenheit

Tatsächlich ist der Sieg über den Faschismus die historisch größte Leistung der Sowjetunion. Doch an der von oben gesteuerten Inszenierung am "Tag des Sieges" stimmt nichts: Nicht die historischen Fakten, nicht die soziale Absicherung der Veteranen, nicht einmal die Symbolik: Der schwarz-orange Stern, in dem die Farben der zaristischen Monarchie mit dem Wappen der Sowjetunion kombiniert werden. 

Russland wäre es sich und den vielen Opfern der 30er, 40er und 50er Jahre schuldig, offen über das zu reden, was damals passiert ist. Statt dessen werden die Ereignisse zur Verbreitung der Putin-Ideologie verwendet. 67 Jahre nach Kriegsende wäre es an der Zeit die Art, wie Russland den "Tag des Sieges" zelebriert, zu überdenken.