Portrait
Herr und Frau Wiener - zwischen "Konsens und Paralyse"?
Vor allem Menschen außerhalb unserer Alpenrepublik können mit den Begrifflichkeiten der Wiener Gemütlichkeit oder des Wiener Schmähs wenig anfangen. Grund genug, um hinter die Fassaden dessen zu blicken, was Wien scheinbar ausmacht.
"Die Wiener Gemütlichkeit, eine Touristenattraktion, ist die falsche Liebenswürdigkeit von Menschen, die im Grunde unhöflich sind." (John Irving)
- (c) Rahb Ayers
Hier hat alles begonnen: im Wiener Biedermeier. Wienerisch, wie es leibte und lebte. Die berüchtigte Gemütlichkeit hat hier ihre Geburt erlebt. G‘miadlich zamsitzn, Musik machen, kreativ sein und das Leben genießen - eine bürgerliche Kultur, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden ist und sie kultivierte das Privat- und Familienleben in ganz neuem Stil. Der häusliche Rückzugsort, die „eiganan via Wänd“, war wichtig wie nie zuvor. Einher mit der berüchtigten Gemütlichkeit muss es demnach auch eine verbale Ausdrucksform geben, die eben dieses Verhalten nach außen trägt. Gibt es auch. Herr und Frau Wiener bedienen sich regelmäßig eines so genannten „Schmähs“, einem speziellen Dialekt, dessen Ursprünge in der deutschen Umgangssprache der Vorstädte liegen. Anfänglich war er der sprachliche Ausdruck der einfach Bediensteten und ist gewissermaßen eine Haltung – eine eigene Denkweise - und ein Gegenstück zum nasalen Hofratsdeutsch. Die Grundlage der Wiener Kommunikation ist also eben dieser Schmäh. Er äußert sich darin, dass ein Wiener, der zufälligerweise etwas ernst meint, dies mit einem oft nachgestellten „Schmäh ohne“ betonen muss. Schmäh ist weit mehr als nur ein Scherz, sondern er schließt Doppelbödigkeit, Charme, Falschheit, Sarkasmus und Zweifel mit ein. Vermutlich ist er vor allem Ausdruck jener Realitätsflucht, auf der sich Herr und Frau Wiener ständig befinden.
Den derben Schmäh - gibt's so und so
Fixpunkte sind also die unverwechselbare Mundart, die Kaffeehauskultur, die Heurigen, das Wiener Lied, die unzähligen Vorstadtbeisln mit ihrem ganz eigenen Charme, die klassische Musik, das berüchtigte Trinkverhalten und die mit jedem Schluck stärker werdende „mia san mia“ - Mentalität – oba fix. Mit "Weaner Schmäh" ist also ein den Wienern zugesprochener Gemütszustand gemeint, der sich durch einen Mansch der Extraklasse auszeichnet: Humor, Melancholie, Sarkasmus, Morbidität, Verharmlosung, Arglist, Boshaftigkeit und nicht zu vergessen - durch den "Grant". Ein gewisser Hang dazu, den Empfänger – aber auch sich selbst – mehr oder weniger symphatisch - auf den Arm zu nehmen, ist jedenfalls vorhanden.
Sog jo net Diminutiv zu mia!
In der Wiener Mundart werden Konsonanten wie "t", "p" und "k" zu „d“, „b“ und „g“. Vokale werden gerne in die Länge gezogen und meist auch ganz anders ausgesprochen als im Hochdeutschen. Markant ist der Hang zur Verniedlichungsform, wobei an Stelle des hochdeutschen "-chen" die Silbe „-erl" angehängt wird. Diese Anwendung ist häufig Ausdruck von Sympathie und Vertrautheit. Der Genetiv ist dem Wienerischen so gut wie unbekannt. Karlis Freundin ist „dem Karli sei oide“ – besser bekannt als „in Karli sei oide“. Einem Verb wird gerne ein „tun“ vorangesetzt: „tuasd eh lesn?"
Die ironische Doppelbödigkeit steht im Zentrum des Wiener Ausdrucks. Spaß und Ernst sind manchmal sehr nah beieinander angesiedelt, der Wiener wankt stets mit einem Augenzwinkern durchs Leben - im wahrsten Sinne des Wortes, denn auch untermauernde Mimik und Tonfall spielen in der Wiener Kommunikation eine wichtige Rolle. Schmäh leitet sich übrigens vom jiddischen schemá ab (Erzählung, Gehörtes).
Starke Sprache in Büdln
Unter- und Übertreibungen sind fixer Bestandteil von Schilderungen. Eine Distanzbeschreibung wie „do brauchst ned ewig und drei tog umahatschn, do foist dreimoi um und bist scho duat“ versteht der Wiener als gute Nachricht. Ein weiteres Merkmal ist der häufige Einsatz von Vergleichen: „schiach wia da zins“, „ågschitt wia a hydrant“ oder „die oida is schiacha ois es londesgericht.“
Das Ordinäre ist da, ja
Das Wienerische bietet ein breites Spektrum an Schimpfwörtern -die Bezeichnungen für die weiblichen Geschlechtsmerkmale etwa übersteigen bei weitem die der Hochsprache. Man muss ja wissen, wovon man spricht. Im Bereich der Kraftausdrücke und Drohungen zeigt sich die Wiener Mundart besonders facettenreich. Ein beleidigter Wiener kann schon leicht einmal antworten: „Juckerte Krätz'n soin da am Oasch wochs'n - und deine Händ soin z'kurz sei zum Krotz'n“
Nua sche longsom, nua net hudln
Die "Wiener Gemütlichkeit" gilt als Charakteristikum der Wiener Mentalität. Das für andere Landsleute leicht beängstigende einfach nicht aufkommen wollende Gefühl jeglicher Hektik einhergehend mit einer für sie uneinschätzbaren Gelassenheit birgt die Gefahr von Fehldiagnosen. „Mia is wuascht“ wird vermutlich allzu oft mit Feindseligkeit verwechselt. Doch auch das wissen Herr und Frau Wiener vermutlich eh – es ist ihnen bloß „wuascht“. Was aber gar nicht egal ist, sind die unzähligen Gründe, die einem das Dasein in dieser Stadt quasi aufbürdet, sich ins Unermessliche ärgern zu müssen. Neagln, motschkan, raunzn und sudern – was bleibt übrig? Übrig bleibt ein Menschenbild, das zu durchschauen fast unmöglich ist. Einerseits den „Sempf“ überall dazu geben, aber zeitgleich doch darauf bedacht sein, dass der Senf nicht zu scharf ist. Ja, ja, die Wiener und die Psychologie. Es gibt einen Ausspruch eines bekannten Wiener Kabarettisten zu dem berühmten Herrn Karl, einer Theaterfigur von Qualtinger, der vermutlich alles vereint:
„Der Herr Karl, dieser Günstling der Verhältnisse, steht wie keine andere Gestalt für die Verwechslung von Konsens und Paralyse.“ (Alfred Dorfer)
Fehlt es dem Wiener an der Fähigkeit zu kommunizieren? Ein Unvermögen im kommunikativen Verhalten oder ist es vielleicht ja wirklich „wuascht“? Fragen wir doch einmal nach: was sind die Kritikpunkte der Wiener? Worüber wird denn so geraunzt?
Zum Einehuachn:
Wiener Dialekt, adé?
Experten meinen, der Wiener Dialekt könnte verschwinden. Wos? Grund dafür ist die hohe Migrationsrate. Eine weitere Ursache für diese Annahme jedoch findet sich im Fortschritt globaler Informationstechnologie. Die von Deutschland dominierte Medienwelt könnte zukünftig genuine Ausdrucksformen in Österreich eliminieren. Sprachmelodie, Verwendung von Anglizismen, Artikelwahl und Satzstellung werden schrittweise angeglichen. (So übrigens auch in der Schweiz - aber das is "wuascht".)
Aber was ist denn nun noch typisch Wienerisch?
Gemütlich bis in den Tod
Der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar meinte einst: “Waunsd leben wüsd, muaßt übers Sterbn redn”. Der 2,5 Millionen Quadratmeter große „Zenträu“ ist mit seinen über 300.000 Gräbern Mittelpunkt des Todes in Wien. Man sagt, er ist zwar nur halb so groß wie Zürich, aber doppelt so lustig. Zeit seines Lebens hat der Zentralfriedhof die Sänger der Stadt in seinen Bann gezogen. Mozart, Brahms, Strauß und Falco…bei Prominentengräbern sieht man immer noch Blumen und Briefe an die Musiker liegen - Adresse: Central Cemetery, Vienna. Nirgendwo auf der Welt ist der Tod musikalischer als in dieser Stadt.
So jung kumma nimma zomm
Die Toten zu den Lebenden zu zählen, sie möglicherweise aus einer frustrierten Sichtweise heraus, als die eigentlich Lebenden zu betrachten - diese oft nicht verstandene Haltung macht wohl die Essenz des Wiener Totenkultes aus. Wiener Lieder handeln meist vom Wein oder vom Tod - oder von beidem. "Ein Wein wird sein, wenn wir schon nicht mehr sind", singt der Wiener Trinker. Das ist Versöhnung und Beruhigung auf Wienerisch, wenn es sein muss: im Tode.
"Auf dem schmalen Grat des essenzialistischen Denkens, auf der Ebene eines behaupteten, eigentümlichen „So-und-nicht-anders-Seins“ - „Mia san mia“ eben, bei der Zuschreibungen von bestimmten seelischen Eigenschaften an ein immer gültiges Wesen des Wieners ihren Platz einnehmen, haben wir daran etwas zu gewinnen?"
Ja und Nein. Nüm?
„Schmäh wird nicht eingesetzt, vorgetragen oder Ähnliches, sondern geführt, und zwar vom Schmähführer. Treffen mehrere Exemplare dieser Art aufeinander, dann rennt der Schmäh. Schmähstad ist jemand, dem der Schmäh abhanden gekommen ist. Oft wird er deshalb „om Schmäh ghoitn“. Die höchste Steigerung von Schmäh ist der „Übaschmäh“ – den haben aber nicht viele.“
Quellen
- Wienerisch, das andere Deutsch, Band 78
- Wien heiter betrachtet, Sinhuber/Zehntmayr
- http://blogs.taz.de/wienblog/2007/02/26/die-stadt-als-unheimlicher-text/
- http://www.dradio.de/dlr/sendungen/kompass/342857/
- http://blogs.taz.de/wienblog/2007/02/05/das-maerchen-vom-wiener-charakter/
- Wien
- Wiener Wut, Richard Weihs
- Wörterbuch der Wiener Mundart, Maria Hornung, Sigmar Grüner
Audioslideshow: Yvonne Widler
Kamera: Johanna Schwarz, Sahel Zarinfard
Schnitt: Yvonne Widler
Fotos: Yvonne Widler
Musik: Goodbye war, hello peace by teru und Feeling dark behind the mask