Reportage

Quarterlife-Crisis: Ab jetzt geht's bergab!

Nach dem Studium ist vor dem Studium, denn trotz Abschluss und einigen Jahren Berufserfahrung, haben viele junge Erwachsene das Gefühl, nichts erreicht zu haben und begeben sich auf die Suche nach dem Sinn des Lebens.


Nagende Selbstzweifel, kalte Unsicherheit, schiere Enttäuschungen, tiefe Unzufriedenheit, gravierende Zukunftsangst, schleichende Depression. All diese Gefühle durchlebt Sara A., 26 Jahre, täglich. Sie ist enttäuscht vom Leben. Dabei hat doch alles so gut begonnen: Das Gymnasium mit einem ausgezeichneten Erfolg beendet, ihr Bakkalaureats Studium der Politikwissenschaft in Mindestzeit und guten Noten abgeschlossen und gleich einen Master in Volkswirtschaft drangehängt. Mindestdauer und Klassenbeste. „Das ist mir alles so egal! Wenn das Dinge sind, die im Leben zählen, dann hat mein Leben vielleicht eine Bedeutung. Sonst sehe ich keinen Sinn“, sagt Sara und lächelt müde.

Seit einem halben Jahr sucht sie einen Job, doch die Absagen lassen ihr keinen Platz zur Hoffnung. Dabei ist Sara gut ausgebildet, spricht englisch, spanisch und französisch fließend und hat sich in Abendkursen an der Volkshochschule Zusatzqualifikationen wie Informatik oder Webdesign erarbeitet. Ob sie nicht zu jung zu viel erreicht hätte? „Ich kann mir keine Steigerung vorstellen. Was bitte soll meine Ausbildung noch übersteigen?“. Die Generation ihrer Eltern hätte es viel einfacher gehabt. Sie mussten nicht so viel leisten wie die Jugend heute und waren mit einfachen Umständen glücklich. „Greift man nach den Sternen, fällt man tiefer als andere, die immer nur am Boden bleiben“, sagt Sara und verschränkt die Arme hinterm Kopf. Resignation.


Die Psychologie ortet Saras Gefühle als Quarterlife-Crisis ein, die vor allem bei akademisch ausgebildeten jungen Erwachsenen auftritt. Diese sind zwischen 20 und 35 Jahre alt und denken, nach einem durchlebten Viertel Jahrhundert hätten sie nichts erreicht, was tatsächlich wertvoll sei. Philipp Ikrath, Mitarbeiter am Institut für Jugendkultur, sieht die Quarterlife-Crisis mehr als Modewort.

„Das Problem ist, dass die Vorstellung der jungen Erwachsenen vom Leben und vor allem wie es sein sollte, abgehoben ist und von der Realität weit entfernt. Aber das ist nicht ihre Schuld“, sagt Ikrath. Schuld sei die individualisierte Gesellschaft, in der Aufgaben an Menschen herangetragen werden, die sie zum Teil gar nicht erfüllen wollen, aber denken zu müssen.


David T., 29 Jahre alt, kann gut nachvollziehen, welche Tiefen Sara derzeit durchschreitet. Er hat sein Studium der Betriebswirtschaft vor fünf Jahren abgeschlossen, als Consultant bei einem internationalen Automobilhersteller gearbeitet und Geld verdient. Sehr viel Geld verdient. Die Erinnerungen an diese Zeit stimmen ihn nicht glücklich. „Wenn du bis zu 80 Stunden die Woche arbeitest, kannst du viel Geld verdienen. Doch für das Ausgeben bleibt keine Zeit“. Eines Tages hätte er es verstanden: Würde er so weiterarbeiten, würde er zu Grunde gehen. „Und das Geld gleich ins Grab mitnehmen“.

Mit allem habe er gebrochen: Mit seinem Job, seiner Freundin und der ganzen Welt. Und dann? Dann war da der große, schwarze Rucksack, der ihn in der Auslage eines Geschäfts zugezwinkert hätte. „Mit dem Nötigsten gefüllt, bin ich zum Flughafen gefahren und den nächsten freien Flug gebucht. Neuseeland, warum eigentlich nicht?“, sagt David und zeigt stolz einige Fotos von seiner Reise her.


Das Fluchtverhalten ist ein typisches Kennzeichen für die Lebenskrise der Mittzwanziger. Philipp Ikrath vermutet dahinter die Suche nach dem „Entstandardisieren des Lebenslaufs“. Er sieht aber auch einen inneren Zwiespalt, der die jungen Leute gerade nach Abschluss des Studiums treibt. Auf der einen Seite möchten sie einen sicheren Arbeitsplatz, eine eigene Familie und Kinder. Auf der anderen Seite möchten sie aber finanziell unabhängig sein, Abenteuer erleben und das ernste Leben später beginnen. „Dadurch werden die Mittzwanziger zu Getriebenen einer Selbstverwirklichungsideologie, die es nur in ihren Köpfen gibt“.

Heute arbeitet David bei einer gemeinnützigen Organisation. Seine Werte hätten sich grundlegend verändert: „Was zählt ist die innere Zufriedenheit. Ganz gleich wie man sie erreicht, sie zu suchen und zu finden, das ist der Sinn des Lebens“, sagt er. Wenn seine Freunde ihn reden hören, bezeichnen sie ihn als Hippie. Er allerdings sei  für den Moment angekommen. „Ob ich jetzt glücklich bin? Nicht wirklich, aber mehr geht nicht. Damit muss ich mich abfinden“. 


Nicht zu wissen, wo man hingehört. Das ist nicht nur Saras oder Davids Problem. Es ist eine gesamte Generation, die zu viel hat und kann und dennoch unzufrieden ist. Sie packen ihre Rucksäcke, lassen ihr altes Leben hinter sich und reisen quer durch die Welt, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und vor allem nach sich selbst. Gefunden wird selten etwas. Und wenn doch, dann sind sie trotzdem unzufrieden.

Geht es nach dem britischen Psychologen Oliver Robinson, der an der Universität Greenwich in London seit Jahren die Lebenskrise der 20- bis 35-Jährigen untersucht, so hat auch diese Phase ein Ende. Die von ihm bezeichnete Identitätskrise werde rückblickend als Katalysator für positive Veränderungen angesehen. „In einer ungewissen Lebenssituation, nämlich nach Abschluss des Studiums und ersten eigenen Schritten in der Arbeitswelt, ist es normal, unsicher und unzufrieden zu sein“, sagt Ikrath und rät zur Selbstreflexion, um sich aus der Krise zu befreien.