aus dem Sinn
Frauen aus dem "Osten"
Sie gilt bei manchen als das „älteste Gewerbe“ der Welt: Die Prostitution. Im Zuge der Fußball-Europameisterschaft 2012 in der Ukraine und Polen gerät sie wieder einmal ins Rampenlicht. Vor allem das Geschäft mit den „Osteuropäerinnen“ nimmt seit Jahren kontinuierlich zu.
1991
Zerfall der Sowjetunion
2004
EU-Osterweiterung
Oktober 2004
Frauenhändler-Ring in Kärnten zerschlagen
2005
Konvention des Europarates gegen Menschenhandel
2006
Für die Fußball-WM in Deutschland werden "Verrichtungsboxen" gebaut
Der gefährliche Mix aus geballter Fußballeuphorie und Klischees über „leichte osteuropäische Mädchen“ sorgt auch im Austragungsland Ukraine für Kritik. Die Aktivistinnen der Frauenrechtsgruppe „FEMEN“ – bekannt geworden durch ihre provokanten und umstrittenen Oben-Ohne-Auftritte – kritisieren den drastischen Anstieg von Sex-Clubs, Bordellen und „Massage“-Instituten. Junge Frauen werden – so die Aktivistinnen – durch gute Bezahlung gelockt, sie geraten in einen Teufelskreis aus Armut, Ausweglosigkeit und oft auch Drogensucht.
Prostitution und „Osteuropa“
Die wachsende Prostitution in der Ukraine ist kein neues Phänomen in der Region: Seit Jahren blüht das Geschäft mit den „Osteuropäerinnen“. Glaubt man den Medienberichten, ist der „Markt“ wie nie zuvor gekennzeichnet von Zwang, Frauen- und Mädchenhandel. Die schlechte finanzielle Situation treibt viele Frauen in den „Westen“, tragische Schicksale und die Profitgier der Hintermänner und –frauen gehen hier Hand in Hand. Die Wurzel dieses Übels liegt in einer Mischung aus hartnäckigen Vorurteilen und politischen Veränderungen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die damit einhergehende Armut und Arbeitslosigkeit – in den Neunzigern gingen laut UNICEF knapp 14 Millionen Arbeitsplätze für Frauen verloren – begünstigten die fatale Entwicklung.
Auch die EU-Osterweiterung trug einiges zum Anstieg bei. Das Amsterdamer Institut Tampep hat in einer Studie für die EU herausgefunden, dass der Anteil der Prostituierten aus Osteuropa seit 2004 drastisch gestiegen ist. „Mit den Osteuropäerinnen ist alles viel unauffälliger geworden, das ist ja ,weiße Ware’ aus Osteuropa. Die Mädchen sind sicherlich deutlich billiger, die Transportwege sind ja auch deutlich kürzer und einfacher“, versucht Autorin Inge Bell im Gespräch mit ARTE einige Gründe zu erklären.
Bittere Nebenwirkung der neuen Grenzfreiheit ist der gestiegene Handel mit Frauen aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Die schlechte gesellschaftliche und wirtschaftliche Position, Gewalt, Doppelbelastung und Abhängigkeit stellen oft die Ursachen für viele Notlagen dar. Eine Studie zeigt auch, dass erst die Anwerbung durch Kriminelle, die die Situation der Frauen gut kennen und sogar oft aus dem Bekanntenkreis stammen, zur tatsächlichen Migration – in diesem Fall – nach Deutschland führte. Keine der Frauen erwartete jedoch eine Spirale aus Angst und Gewalt, gelockt wurden sie durch falsche Versprechungen.
Berichtet wird daher oft von Menschenhandel, wie zum Beispiel im Oktober 2004, als ein Frauenhändler-Ring in Kärnten aufgedeckt wurde. Dabei kamen grausame, aber bekannt klingende Details ans Licht: Die Frauen aus Weißrussland, Rumänien und Polen wurden mit Schlägen zum Gehorsam gezwungen, ihre Familien bedroht und die Hälfte ihres Lohnes mussten sie an die Bordellbetreiber abgeben. Die Diskussion über die „Freiwilligkeit“ ihrer Handlungen muss daher immer im Kontext der wirtschaftlichen und psychischen Abhängigkeiten gesehen werden. Die „International Labour Organization“ schätzt, dass 80 Prozent der Opfer im Milliardengeschäft (!) Menschenhandel Frauen und Mädchen sind.
Hübsch, willig und pflegeleicht
„Sie“ – die Prostituierten – werden als anonyme und homogene Masse dargestellt, die mit Vorurteilen zu kämpfen hat. Noch drastischer kommt dies zum Ausdruck, wenn es um die sogenannten „Osteuropäerinnen“ geht. Denn: Jeder scheint zu wissen, wer sie sind und warum die Männer „aus dem Westen“ verzweifelt nach der richtigen „Ostfrau“ für eine Nacht oder ein ganzes Leben suchen. Ein kleines Experiment zeigt bereits, wie weit es gekommen ist: Googelt man den Begriff „Osteuropäerin“, gelangt man sofort zu eher zweifelhaften Berichten. „Will die Osteuropäerin etwa nur Geld abzocken?“ heißt es beispielsweise auf einer Singlebörsen-Test-Seite. Wie man einer „Osteuropäerin mit Abzock-Motiven“ aus dem Weg geht, wird hier mit „Tipps und Tricks“ erläutert. Auch auf die Frage, ob Frauen aus Polen, Russland oder der Ukraine „besser“ sind, scheinen die Autoren eine Antwort zu wissen.
In den westlichen Medien begegnet uns immer öfter das Bild der käuflichen, schönen und „pflegeleichten“ Osteuropäerinnen. Ein bekanntes Beispiel: Die ATV+ Sendung „Das Geschäft mit der Liebe. Frauen aus dem Osten“, die Anfang 2010 auf Sendung ging und zum Quotenhit wurde. Auf der Homepage der Sendung findet sich etwa folgende Beschreibung: „Sie gelten als besonders freundlich und verführerisch, manch österreichischer Macho bezeichnet sie als besonders pflegeleicht: Frauen aus Russland, der Ukraine, der Slowakei oder aus Rumänien.“ Ein Grund, warum auch der Heiratstourismus nach Osteuropa boomt – und nicht erst seit den bescheiden erfolgreichen Versuchen der ATV-Protagonisten. Partneragenturen, die spezialisiert auf „Frauen aus Osteuropa“ sind, schießen aus dem Boden.
Doch auch der Qualitätsjournalismus arbeitet mit Stereotypen. Beispiel: Ein Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ versucht, die „Vorteile“ der Osteuropäerinnen in Worte zu fasen: „Dafür bekommt ein deutscher Mann eine Menge: eine meist praktisch veranlagte Frau, die ihn sicher durch die Wirren des Alltags leitet, zu ihm steht, sich nicht zu schade ist, beim Bäcker putzen zu gehen, um ihren Teil beizusteuern. Und sie ist auch noch dankbar.“ Österreicherinnen und deutsche Frauen kommen eher schlecht weg, denn sie gelten hier im Vergleich als hartherzig, egoistisch und familienfeindlich.
Verbot oder Anerkennung?
Wer in der Debatte zu kurz kommt, sind die betroffenen Frauen. Wie die Lebensrealitäten dieser Frauen aussehen, die sich im Halbdunkel der Straßen und Bordelle bewegen, wird weniger oft thematisiert. Viel mehr wird der Voyeurismus der Gesellschaft befriedigt. Klar ist: Mittlerweile gehört käuflicher Sex zum Alltag, nur wenige wundern sich noch über Männer, die sich für Geld befriedigen lassen.
Auch bei uns steht man der Entwicklung eher hilflos gegenüber. Die Meinungen teilen sich in vier Lager. Einige befürworten das komplette Verbot und die Bestrafung der Prostitution generell. Andere sehen in der langfristigen Abschaffung und der alleinigen Bestrafung der in Verbindung mit Prostitution stehenden Handlungen –auf „Betreiber“ und „Nachfrager“-Seite – den besseren Weg. Das Regulationsprinzip hingegen setzt auf staatliche Kontrolle: Genehmigungen, Registrierungen, Gesundheitskontrollen. Für die Entkriminalisierung spricht sich die letzte Gruppe aus – Sexarbeit soll als Form der Erwerbsarbeit anerkannt werden. Von der schwedischen Linie der Bestrafung der Freier bis hin zu Deutschland und Holland, die eher dem vierten Prinzip folgen, gibt es in Europa alles. In Österreich befinden wir uns derzeit im Regulationsprinzip. Legale Prostituierte gelten hier als „Neue Selbständige“, was unter anderem zur skurrilen Situation führt, dass eine der wenigen legal tatsächlich zugänglichen Erwerbsmöglichkeiten für Asylwerberinnen die Sexarbeit ist.
Die unterschiedlichen Gesetzeslagen führen immer öfter zu einem Ruf nach einer gemeinsamen Richtung. Europaweite Zusammenarbeit und einheitliche Regelungen wären wichtig. Die 2005 beschlossene Konvention des Europarates gegen Menschenhandel scheiterte jedoch an der Umsetzung.
Ware Frau
Zurück zum Fußball: Eine Umfrage der Universität Wien im Jahr 2008 zeigte, dass jeder Zweite während der Euro 2008 in Österreich eine steigende Nachfrage nach Prostitution erwartete. Doch die Meisterschaft verlief in dieser Hinsicht ohne große Veränderungen, berichtete die Polizei später. Bei der EURO 2004 in Portugal sollen jedoch laut offiziellen Angaben bis zu 25.000 Prostituierte rund um die Austragungsorte gearbeitet haben und die Anzahl der Bordelle sei drastisch gestiegen. Und bei der Fußball-WM in Deutschland? Hier war es die „Bild“-Zeitung, die eine später oft zitierte Zahl in Umlauf brachte: 40.000 Zwangsprostituierte sollten ins Land geholt werden. Später erwies sich das jedoch als Panikmache. Als „Vorsichtsmaßnahme“ im Gedächtnis geblieben sind vor allem die „Verrichtungsboxen" für gewerbliche Prostitution.
Frauenhandel orientiere sich nicht nach einzelnen Großereignissen, begründen Expertinnen. Auch wenn die Entwarnungen stimmen – die Situation in der Ukraine und in Polen ist sowohl politisch als auch sozial eine andere. Damit es in der Ukraine keine „Flaute“ gibt, läuft derzeit sogar eine Werbekampagne für Sex-Clubs in Kiew, die von der Stadtregierung jedoch nicht toleriert wird. Das Land machte auch auf die hohe HIV-Ansteckungsrate – die höchste in Europa – aufmerksam.
Trotzdem warb der ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch im Frühjahr 2011 mit fragwürdigen Mitteln für die EM. „Wenn in Kiew die Kastanien blühen, lassen unsere Frauen ihre Hüllen fallen“, ließ er bei einem Besuch in der Schweiz verlautbaren. Gefundenes Fressen war das für die Aktivistinnen von „FEMEN“, die auf den steigenden Sextourismus aufmerksam machen wollen. Und sie wissen auch, wie man Aufmerksamkeit erregt – zuletzt stürzte sich eine Aktivistin in gewohnter Oben-Ohne-Manier auf den EURO-Pokal – auf ihrem Bauch standen die Worte „Fuck EURO 2012“.
Ein wichtiger Grund, warum der Anpfiff der Fußball-EM 2012 in der Öffentlichkeit dennoch eher still vom Thema Prostitution begleitet werden wird: Als „Tabu“ und „Schattenphänomen“ ist es eindeutig besser fürs Geschäft.
Factbox
Am 8. Juni 2012 startet die Fußball-EM in der Ukraine und Polen. Neben dem erhofften Wirtschaftswunder für die zwei Gastgeberländer reiht sich auch heftige Kritik ein – Kritik am Boom der Prostitution in „Osteuropa“.
„Lieferländer“ sind vor allem Russland, die Ukraine und Rumänien, „Transitländer“ befinden sich vor allem im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Zu den „Zielländern“ zählen u.a. Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich.
Die Polizei schätzt, dass 83 Prozent der Prostituierten in Wien aus dem osteuropäischen Raum stammen. Mehrere Tausend Ukrainerinnen werden nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen jährlich zur Prostitution gezwungen. Genaue Zahlen gibt es nicht, die Dunkelziffer ist hoch.
Nach Schätzungen der ILO werden weltweit etwa 2,4 Millionen Menschen pro Jahr Opfer von Menschenhändlern. 80 Prozent davon sind Frauen und Kinder. In Mittel- und Osteuropa sind laut der OSZE 120.000 bis 500.000 Frauen betroffen.
Quellen
Ö1: Fußball-EM und Prostitution
Gesellschaftskritik: „Osteuropäerin“
Brickners Blog: Zur Gruppe „Femen“
Literatur: „Zu verkaufen: Mariana, 15 Jahre“ von Iana Matei
Le Monde Diplomatique: Prostitution ohne Grenzen
OSZE: Menschenhandel weitet sich aus
Zwangsprostituierte kommen meist aus Osteuropa
Mythos Europa: Prostitution, Migration, Frauenhandel - Themenheft Osteuropa Nr. 6/2006
Hintergründe des Menschenhandels in die Prostitution mit Frauen aus Osteuropa
„Im Angebot: Billige Bräute aus Osteuropa“
„Käuflicher Sex kommt aus dem Osten“
Master-Thesis zu rechtlichen Rahmenbedingungen der Sexarbeit
Sophie: BildungsRaum für Prostituierte
Osteuropa löst Asien als Hauptziel ab
SZ: "Deutsche Frauen sagen nie das, was sie wirklich denken"
Doku: Zwangsprostitution in der Schweiz
TV-Reportage: Frauenhandeln in Europa
Kiew geht gegen Prostitution vor
Inge Bell über Prostitution und Menschenhandel
„Janukowitsch setzt auf Sexappeal“
„Die Ukraine darf kein Bordell werden“
Euro 08: Kein Anstieg von Frauenhandel