Moskau

Russland - das Land der Machos

Konservativ und obrigkeitshörig - die russische Gesellschaft hinkt dem Westen um Jahrzehnte hinterher.


Russland hinkt Europa hinterher, weil es hier keine Renaissance und keine Aufklärung gab - dieses Argument hört man immer wieder, wenn es um den sogenannten "russischen Sonderweg" geht, um zu erklären, warum die Politik in vielen Bereichen so wenig entwickelt ist . Russland ist aber - im Vergleich zu Europa - nicht nur politisch rückständig sondern auch gesellschaftlich: Patriarchale Strukturen, Obrigkeitshörigkeit, Ablehnung von allem "Fremden", Anfälligkeit für autoritäre Denkmuster. Kurz gesagt: Die Gesellschaft sieht ungefähr so aus wie in Österreich in den 1950er und 1960er Jahren. Was hier fehlt sind nicht nur Renaissance und Aufklärung sondern auch die Durchlüftung der 68er-Bewegung.


Schwule und Lesben - die sind doch krank!

Das sieht man sehr klar am Umgang mit Homosexuellen und sexuellen Minderheiten - in Russland abschätzig "LGBT-Gemeinschaft" genannt. Am Wochenende versuchten Homosexuellen-Aktivisten wieder einmal eine Gay-Pride-Parade in Moskau zu veranstalten, zum siebten Mal und zum siebten Mal hintereinander wurde der Antrag abgelehnt. Im Vorfeld habe ich mir einige Umfrage-Ergebnisse angeschaut und die sind, gelinde gesagt, erchreckend:

  • 38% sehen in Homosexualität eine moralisch schädliche Verirrung
  • 36% meinen, Homosexualität sei eine Krankheit
  • und nur 15% meinen, Homosexualität sei eine normale sexuelle Orientierung wie andere auch.

Die Ablehnung ist in den letzten Jahren übrigens stärker und nicht schwächer geworden. Knapp die Hälfte der Befragten meint, man müsse Homosexuelle "heilen" oder ihnen zumindest psychologische Hilfe zuteil werden lassen. Weitere 18% der Befragten wünschen sich, dass Homosexuelle vom Rest der Bevölkerung isoliert werden, 4% sprechen sich gleich für eine "Liquidierung" aus. Kein Wunder, dass die Polizei bei der Auflösung der Gay-Pride-Parade tatkräftige Hilfe aus der Bevölkerung bekam.


Weg mit ihnen nach Sibirien!

Da waren etwa die Herren von den "Orthodoxen Fahnenträgern", einer etwas eigenartigen Organisation, die natürlich den Segen der Orthodoxen Kirche hat und die mir das erste Mal beim "Russischen Marsch" aufgefallen sind, als sie Reihe in Reihe mit Neonazis und Ultranationalisten marschierten. Sie treten immer in Ledermontur auf, mit Pelzkappen und Abzeichen, die mich stark an den SS-Totenkopf erinnern. Einer der sympathischen Herren erklärte mir auch gleich, was man mit den Schwulen machen soll: Deportieren, nach Sibirien, dort können sie arbeiten und Arbeit heilt bekanntlich (Komisch, schon wieder so eine SS-Assoziation). 

Dann sind dort verschiedene andere orthodoxe Gläubige, die betend mit Ikonen herumstehen und zwischendurch die Demonstranten anpöbeln bzw. mit Weihwasser bespritzen. "Homosexualität ist Sünde, raus mit den Schwulen aus Russland, Weißrussland, der Ukraine und Ungarn" stand auf dem Schild, das eine der betenden Frauen vor sich hertrug. Warum gerade diese Länder? Keine Ahnung.


Regenbogenfahne? Dafür gibts die Faust ins Gesicht!

Als pflichtschuldiger Reporter frage ich diese Leute, warum sie gekommen sind und was sie wollen. Die Antwort. "Ich will nicht, dass meine Kinder diesen Schmutz zu sehen bekommen." - "Haben Sie denn Kinder?" - "Nein, aber darum geht es gar nicht!". Ach ja. Oder: "Ich dachte immer, der Kern des Christentums sei Nächstenliebe und Mildtätigkeit?" - "Wir sind doch mildtätig! Wenn es uns gelingt, diese Transen zu heilen, ersparen wir Ihnen die ewige Verdammnis in der Hölle und sichern ihnen den Eintritt ins Himmelreich!"

Und dann waren da "normale" Hooligans, junge Leute, denen der fehlende Pflichtschulabschluss schon von weitem anzusehen war. Wenig überraschend waren sie die aggressivsten. Kaum tauchte irgendwo eine Regenbogenfahne oder etwa ähnliches auf: Die Faust ins Gesicht. Dieses Video gibt einen ganz guten Überblick über die Ereignisse.

Ignoranz und sexuelle Unsicherheit

Im Vorfeld der Veranstaltung habe ich mit dem Soziologen Denis Volkow gesprochen, warum Homosexualität so massiv abgelehnt wird (Der Beitrag auf Ö1 ist leider nicht online abrufbar, sorry.) Es war übrigens nicht einfach, einen Gesprächspartner zu finden. Die meisten Politologen und Meinungs-Nachfühler, mit denen wir normalerweise reden, haben zum Thema Homosexualität keine Position. Sie beschäftigen sich lieber damit, die Machtspielchen im Kreml zu kommentieren und ihre Einschätzung darüber abzugeben, welche Minister miteinander verfeindet oder befreundet sind und wer innerhalb der Präsidentenadministration wirklich die Fäden zieht (Gähn). Und das russische Internet gibt zum Thema Homosexualität sowieso nichts her. Gibt man die entsprechenden Suchwörter ein, werden fast ausschließlich Porno-Seiten angezeigt.

Das sei genau das Problem, meinte Volkow. In der russischen Gesellschaft wolle sich niemand mit dem Thema beschäftigen, niemand wisse etwas darüber und niemand habe Interesse das zu ändern. Auch in den Medien werde über Homosexualität nur in Verbindung mit besonders grotesken Dingen oder Skandalen berichtet. Viele seien sich unsicher in ihrer sexuellen Identität meinte Volkow mit Verweis auf einen Artikel in der (übrigens ganz hervorragenden) Zeitschrift Bolshoi Gorod. Das führe zu einer noch aggressiveren Ablehnung von Homosexualität. Und der Staat verstärkt das. Angesprochen auf eine der früheren Gay-Pride-Paraden in Moskau meinte Noch-Wieder-Präsident Vladimir Putin: Bei diesem Thema könne er eigentlich nur an eines denken, nämlich an die demographische Entwicklung des Landes. Noch Fragen?

Ausländerfeindlichkeit und Macho-Gehabe

Russland hat sich in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Einwanderungsländer der Welt entwickelt. Genaue Daten gibt es nicht, aber die Zahl der Gastarbeiter aus Zentralasien und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken dürfte zwischen fünf und zehn Millionen liegen. Diese "Zugereisten", so der abschätzige Ausdruck, werden massiv diskriminiert, ausgebeutet und haben praktisch keine Rechte am Arbeitsmarkt. Die "ungewaschenen und ungebildeten Tadschiken" sind für den Großrussen Menschen zweiter Klasse. 

Interessanterweise gibt es keine aktuellen, veröffentlichen Daten zum Thema Fremdenfeindlichkeit, man muss sich daher auf Indizien verlassen: Der "Russische Marsch", bei dem sich im November Neonazis und Ultranationalisten versammeln, hat von Jahr zu Jahr mehr Zulauf. Der russische Fußballverband musste zugeben, dass es ein Problem mit rechtsextremen Fans gibt. Und laut der Rassismusbeobachtungsstelle Sova, wurden im ersten Quartal dieses Jahres mindestens drei Menschen bei rassistischen Überfällen getötet und mindestens 54 Personen verletzt. Unser kirgisisches Kindermädchen weigert sich auf jeden Fall nach dem Babysitten in der Dunkelheit alleine nachhause zu gehen  - zu gefährlich, meint sie. Und der Mangel an Geschlechtergerechtigkeit ist ein eigenes Thema für einen eigen Blog-Eintrag. Frauen haben in Russland auf jeden Fall die gleichen Rechte, vor allem was das Recht betrifft, sich alleine um Familie und Haushalt kümmern zu dürfen - zusätzlich zum normalen Job, versteht sich.


Eine Gesellschaft, die nicht über sich selbst nachdenkt

Volkow führt das bewusste Unwissen über Homosexualität auf ein anderes Phänomen zurück. Die russische Gesellschaft habe gerade erst damit begonnen, sich mit sich selbst zu beschäftigen und über sich selber nachzudenken. Eine interessante Idee: Seit Jahrzehnten ist Russland damit beschäftigt, die Macht neu, anders und dann wieder neu zu verteilen, es wird über Demokratie oder Nicht-Demokratie diskutiert, über die Rolle der russischen Großmacht in der Welt, die angebliche Bedrohung durch die Nato und weiß Gott welche anderen Themen von globaler Bedeutung. Doch wie die einzelnen Menschen miteinander umgehen, ist so wenig Thema wie das Verhältnis zwischen Individuum und Staat. Das Gesellschaftsbild wird von der Staatsführung vorgegeben und von staatsnahen Institutionen wie der orthodoxen Kirche ideologisch und moralisch unterfüttert. Wie dieses vorgegebene Gesellschaftsbild mit den tatsächlichen sozialen Gegebenheiten zusammenpasst, ist ein Tabuthema.

Man muss gar nicht so weit gehen und über Homosexualität reden. Auch Phänomene wie der krasse Gegensatz zwischen Arm und Reich, zwischen Bettlern und Luxusautos ist in der öffentlichen Diskussion ein absolutes Nicht-Thema. Das hängt auch damit zusammen, dass es eigentlich keine echte öffentliche Diskussion gibt, keinen Diskurs. Dazu fehlen schlicht die Medien, in denen ein solcher freier Austausch von Meinungen stattfinden könnte. Fernsehen und die meisten Zeitungen bekommen ihre Themen und Einstellungen vom Kreml vorgegeben. Und die sind  natürlich nicht darauf ausgerichtet die soziale Lage in Frage zu stellen. Im Internet wird zwar viel diskutiert, doch diese Diskussionen versickern sehr schnell, ein klassisches Phänomen von Internet-Diskussionen, nicht nur in Russland.


Eine russische 68er-Bewegung?

Aber Volkow ist weniger pessismistisch als ich es bin. Die  Protestbewegung der letzten Monate, könne eine Keimzelle für ein neues, gesellschaftliches Bewusstsein sein, meinte er. Auf meine Frage ob "Occupy-Abai" so etwas werde wie  Paris 1968 meinte er, das sei nicht ganz ausgeschlossen. Tatsächlich hat die Protestbewegung viele gesellschaftskritische Ansätze, etwa was die Selbstorganisation oder die Basisdemokratie angeht. Auch feministsche Gruppen wie "Pussy Riot" haben sich den Protesten angeschlossen  und versuchen so eine Stimme zu bekommen. 

Klar ist für mich aus heutiger Sicht, dass die Protestbewegung in den nächsten Monaten stärker wird, und sei es nur wegen der vielen taktischen Fehler, mit denen die Führung im Kreml immer neue Bevölkerungsschichten gegen sich aufbringt. Ich bin jedoch skeptisch wenn es darum geht, dass diese Protestwelle grundsätzliche Dinge in Frage stellt, etwa das Geschlechterverhältnis oder die Obrigkeitsgläubigkeit. Und  die Obrigkeit hat sowieso andere Prioritäten. Wie sie sich die Gesellschaft vorstellt, erklärt der neue Kulturminister Wladimir Mediniski, über den ich heute ein Porträt im Ö1-Morgenjournal gemacht habe. Nationalismus, Staatsintervention, Geschichtsfälschung - klingt nicht sehr nach Aufklärung. Die nächste Verhaftungswelle bei den Oppositionellen läuft bereits.