Moskau
Heiraten heißt Schießen
Russland ist ein Vielvölkerstaat und damit hat die russische Mehrheit ein immer größeres Problem.
Sie rasen laut hupend durch die Stadt, verstoßen gegen die Verkehrsregeln und die Teilnehmer schießen in die Luft - Hochzeitskonvois, das neue Skandalthema des russischen Internets. Begonnen hat es Ende September als erst ein Großaufgebot der Spezialeinheit „OMON“ einen Konvoi stoppen konnte, der sich davor mit der Polizei eine Verfolgungsjagd durch die halbe Stadt geliefert hatte. Erst unmittelbar neben dem Roten Platz war Schluss für die Hochzeitsgesellschaft, die in Ferraris, Bentleys und Lexus schießend durch die Stadt gefahren war. Mehrere Teilnehmer der Hochzeit wurden wegen Hooliganismus inzwischen zu bis zu 15 Tagen Haft verurteilt und sogar Ministerpräsident Medvedev ließ öffentlich ausrichten, dass diese Art zu feiern inakzeptabel sei. Doch was Medwedew sagt zählt bekanntlich nicht viel: Fast wöchentlich berichten die Medien von neuen Hochzeitskonvois, bei deren Fahrt durch die Stadt immer wieder aus echten oder aus Schreckschusspistolen in die Luft geschossen wird. Moskau hat ein neues Skandalthema. Denn in fast allen Fällen stammen die Brautleute und ihre Gäste aus einer der Teilrepubliken im Kaukasus. Hier ein kurzer Eindruck von einer dieser „Hochzeitsfahrten“.
Die Kaukasier kommen nach Moskau
Russland ist ein Vielvölkerstaat, 20 Prozent der Bevölkerung sind Minderheiten. Die meisten davon leben verstreut und weitgehend russifiziert in autonomen Teilrepubliken, in denen sie selbst eine Minderheit sind. Die finno-ugrischen Komi etwa, die die in ihrer eigenen Republik im russischen Norden nur ein Fünftel der Bevölkerung stellen, der Rest sind Russen und andere Minderheiten. Anders ist das hingegen im russischen Kaukasus, der erst im späten 19. Jahrhundert in das Zarenreich eingegliedert wurde und wo sich große Teile der Bevölkerung bis heute nicht wirklich mit ihrer Zugehörigkeit zu Russland anfreunden können. Diese Republiken - von Dagestan und Tschetschenien im Osten bis Karatschaevo-Tscherkessien im Westen sind außerdem überwiegend muslimisch und unterschieden sich kulturell und sozial stark vom Rest Russlands: die Region ist arm und unterentwickelt, gleichzeitig sind die Geburtenzahlen hoch, viele Menschen gehen daher als Gastarbeiter in den Rest des Landes, vor allem in die Boomtown Moskau.
Protzige Machos und schmutzige Gastarbeiter
Hier treffen sich die armen Arbeiter und die Familien der korrupten Eliten, die in diesen Republiken das Sagen haben. Beide sind bei den Moskauern gleichermaßen unbeliebt: Die einen als ungebildete und schmutzige „Tschornie“ (Schwarze), für die die schlechteste Arbeit noch zu gut und das niedrigste Gehalt noch zu hoch ist, die anderen als präpotente und undankbare Macho-Typen, die ihren Reichtum nur der Gutmütigkeit und Dummheit der Russen verdanken, die diese Regionen finanziell am Leben erhalten. „Hört auf den Kaukasus durchzufüttern“ ist eine Losung, die in breiten Schichten der Moskauer Bevölkerung auf Zustimmung stoßt. Ein Gradmesser dafür ist das aktuelle Video der Band Rabfak, deren Texter Alexander Jelin ein großartiges Gespür für die Stimmung der Bevölkerung hat. Im Jahr 2003 schrieb er den pro-Putin-Schlager „Ich will einen wie Putin“, in dem die Manneskraft und Großartigkeit des Präsidenten gefeiert wird. Letzten Herbst verfasste er die Hymne der politischen Protestbewegung „Unser Irrenhaus wählt Putin“. Sein neuester Hit auf YouTube ist „Hören wir auf Kansas durchzufüttern“, im Video sind junge Kaukasier zu sehen die mit Kalaschnikow im Arm tanzen, die sich Autorennen durch Moskau liefern oder sich sonst verrückt und aus Sicht der russischen Mehrheitsbevölkerung anstößig aufführen. „Kansas“ ist in diesem Fall nur ein akustischer Platzhalter für „Kavkas“, die russischen Teilrepubliken im Kaukasus.
Ein schwarzes Loch im Kaukasus
Der Kreml hat keine echte Idee, wie er mit diesem neuen Utra-Nationalismus umgehen soll, genauso wenig wie er einen echten Plan für die Entwicklung des Kaukasus hat. Um den islamistischen Aufstand in Tschetschenien und den Nachbarrepubliken unter Kontrolle zu bekommen hat Wladimir Putin in den ersten Jahren seiner Herrschaft lokalen Eliten quasi die Herrschaft über die Republiken übertragen. Sie können dort machen was sie wollen, sofern es im Rest Russlands keine Anschläge gibt und nicht zu viele russische Soldaten in die Kämpfe eingreifen müssen. Das krasseste Beispiel dafür ist Tschetschenien, in dem die Aufständischen so gut wie besiegt sind, dafür hat Republiks-Anführer Ramsan Kadyrow eine islamische Diktatur errichtet, in der jeder Widerstand mit Gewalt und Folter unterdrückt wird. Finanziert werden diese lokale Regime fast ausschließlich aus Moskau, das Geld fließt jedoch nur zum Teil in die Entwicklung der Region, der Rest landet über schwarze Kanäle bei den lokalen Eliten, die ihren Reichtum entsprechend protzig zur Schau stellen. Und dieses Problem kommt immer wieder an die Oberfläche: Vor zwei Jahren kam es zu massiven Ausschreitungen nationalistischer Hooligans als Jugendliche aus dem Kaukasus einen Fußballfan töteten. Diesmal sind es die Hochzeits-Konvois. Der nächste Skandal ist nur eine Frage der Zeit.
Und die Opposition? Die versucht von dieser nationalistischen Welle eher zu profitieren statt gegen sie aufzutreten. Ganz vorne dabei Alexei Navalny, einer der Anführer der Protestbewegung des letzten Winters, der ebenfalls sehr laut Positionen vertritt, die über einen reinen Patriotismus hinausgehen. Hier eine gute Analyse von Navalnys politischem Auf- und (vorläufigem) Abstieg.