Reportage
15 Jahre Einsamkeit
Die Wege des Herrn brachten Vincent Ohindo vom Kongo nach Tirol - wie viele andere ausländische Geistliche wurde er geholt, um den fehlenden einheimischen Nachwuchs zu ersetzen. Seither versucht er, in der Fremde anzukommen.
Er kam an einem kalten Wintertag nach Tirol. Zum ersten Mal in seinem Leben stand Pfarrer Vincent Ohindo 1997 im Schnee – in Sommerschuhen. Schnee war nicht das einzige, das ihm fremd war. So wie alle großen Städte kam die Landeshauptstadt Innsbruck dem Dorfbewohner Ohindo wie ein alles verschlingender Graben vor. An den Seiten umringt von riesigen, sich erhebenden Bergen. In seinem Heimatdorf Losele, Kongo, kannte Ohindo jeden der 900 Einwohner beim Namen. In ihrer Gemeinschaft lebte er von dem, was die flachen Felder hergaben. Ein friedliches und frommes Leben. In Tirol war er der erste schwarze Priester. Der Fremde. Er ist es bis heute geblieben.
Seit sieben Jahren ist Ohindo Seelsorger in Ober- und Untertilliach. Eine enge Serpentinenstraße führt in die beiden Osttiroler Orte, wo zusammen weniger als 1.000 Leute wohnen. Hier braucht es keine Straßennamen. Nur Nummern weisen den Weg durch die eng aneinander gebauten, denkmalgeschützten Häuser auf 1.450 Meter Höhe. Die Haut des Pfarrers ist dunkler als das Holz der alten Bauernhöfe. Vincent Ohindo wohnt im alten Pfarrgemeindehaus - eigentlich zu groß für ihn allein. Er steht am Eingang, aber man bemerkt ihn erst spät, weil er nichts sagt, nur schaut. Ohindos Händedruck ist weich und fest, er hält die Hand seines Gegenübers lange in seiner. Wenn sich der Priester freut, zieht er die Buchstaben ganz lang, sagt „Jaaa“, statt bloß „Ja“. Seine Stimme geht leicht nach oben. Es klingt, als ob er singe. Er ist dankbar für jeden, der nicht nur der Predigt lauscht, sondern auch seinen eigenen Geschichten. Nur wenige tun das.
Soldaten des Herrn
Im Kongo bildete der 54jährige Ohindo in Priesterseminaren junge Geistliche aus, bis zu 300. Priester sein: das bedeutet, weg vom Elend auf der Straße, hinein in die Hallen der Universitäten. Ohindos Vater war Religionslehrer und Organist, der Onkel Pfarrer, die Tante Nonne. „Dass ich als ältestes Kind Geistlicher werde, musste ich erst durchsetzen.“ Kurz nach dem Ohindo den Kongo verließ, brach in seiner Heimat der Bürgerkrieg aus. Elend und Not kam über das Land und Ohindos Magen kämpfte im sicheren Tirol mit Sauerkraut und kalten Abendessen. Am Canisianum in Innsbruck begann er sein Doktoratsstudium, Jahre später promovierte er über den deutschen Philosophen Jürgen Habermas.
Ohindo lernte schnell Deutsch und wurde nach sechs Monaten im Orden der „Ewigen Anbetungsschwestern“ als spiritueller Geistlicher eingesetzt. Später schickte ihn die Diözese Innsbruck nach Wattens, Schwaz und St. Jodok am Brenner. Erst als Vertretung, dann als Unterstützung für den einheimischen Priester, schließlich allein. Immer ging er dorthin, wo er gebraucht wurde, fing von neuem an, überwand Distanzen, zwischenmenschliche und geografische. „Wir sind wie Soldaten, die von Ort zu Ort geschickt werden“, sagt er über seinen Beruf.
Ohindo ist Tirols erster afrikanische Priester. „Ich habe den Weg frei gemacht.“ Viele Pfarrer wurden nach ihm geholt, aus Togo, Uganda, Kenia und über das Land verstreut, weil der einheimische Nachwuchs fehlt und die alten Priester sterben oder in Pension gehen. „Sie wollen kein Leben führen, das so viel Verzicht verlangt“, sagt Ohindo über den Priestermangel. Drei Jahre lang musste Obertilliach ohne eigenen Seelsorger auskommen. „Das war ganz schrecklich“, erinnert sich eine ältere Frau. Mit dem neuen Pfarrer war wieder alles beim Alten – irgendwie.
"Die Liturgie hier ist kalt"
Allerseelen. Ein nebliger erster November und ein halber Meter Neuschnee liegen vor der kärglich eingerichteten Pfarrkirche in Untertilliach. Ohindo lässt die Gräbersegnung ausfallen, zu kalt ist es vor der Tür. Die 27köpfige Musikkapelle des Dorfes bläst schwere Melodie durch die dunklen, kalten Kirchengemäuer und die voll besetzten Bänke. Keine Orgel spielt, nur Blasinstrumente sind zu hören, der Chor hat aufgehört zu singen. Im schwarzen Messgewand tritt Ohindo hinter den Altar, auf dem acht Kerzen der Verstorbenen dieses Jahres gedenken. Er spricht für jeden ein Gebet und nennt zum Namen und Alter des Toten die Hausnummer. „Gehet hin in Frieden.“ Die Messe ist zu Ende. „Dank sei Gott dem Herrn“.
Im Kongo würden die Menschen in der Kirche jetzt stehen, nicht knien. Sie würden inbrünstig singen und energisch klatschen, ihre Hüften im Takt der Musik wiegen. Ohindo hat die Musik im Kongo gelassen. „Der Glaube ist derselbe, er wird nur anders ausgelebt“, sagt er zur Verteidigung der Tiroler. Nur ein paar Mal hat er in Obertilliach afrikanische Lieder gesungen. Nach der Messe sind die Menschen begeistert zu ihm gekommen – auch wenn sie vorher zu Salzsäulen erstarrten. „In der Kirche tanzt man nicht“, sagt ein Gläubiger. „Die Liturgie hier ist kalt“, sagt Ohindo.
- Ohindo (rechts) mit einem Priesterkollegen (links) aus dem kongo, der zu Besuch in Untertilliach ist.
Ein Pfarrer ist ein Pfarrer ist kein Freund
Am Sonntag isst Ohindo in einem der Gasthäuser des Dorfes zu Mittag. „Grüß Gott, Herr Pfarrer“, wird er an der Tür des Gasthauses Weilerhof begrüßt. Der Mann an der Theke legt die Zeitung beiseite und heißt den Pfarrer willkommen. Die Gaststube riecht nach Sauerkraut, geschmolzener Butter und Fleisch. Schwielende Bauernhände greifen zu Bierkrügen und Weingläsern. Messerklirren mischt sich mit Gesprächen im schwer verständlichen Dialekt. Eine Bauernfamilie erhebt ihren Blick von den Tellern zum Pfarrer. Für einen Moment unterbrechen die Menschen ihr Gespräch. Sie lächeln Ohindo an, er lächelt zurück. Dann reden sie weiter. Ohindo setzt sich an den Nebentisch. Er nimmt tiefe Schlucke Bier, das er sich am Tag des Herrn gönnt. Der Pfarrer bestellt das Schweinskotelett und isst es genüsslich, mit lautem Schmatzen. Der Mann, der ihn schon am Eingang begrüßt hat, hat das Essen des Priesters bezahlt und ist wortlos gegangen. Ehrensache, so macht er das immer. Als Priester der Dorfgemeinde ist Ohindo ein respektierter Mann. Zum Pfarrer hingesetzt hat sich niemand, die Menschen belassen es beim Grüßen. Ohindo glaubt, weil viele nicht richtig Hochdeutsch können. Die Dorfbewohner sagen: „Wir mussten uns anfangs anstrengen, den französischen Akzent des Pfarrers zu überhören.“
Nur langsam bröckelt die Distanz, die sein Vorgänger vierzig Jahre lang aufgebaut hat wie eine Mauer. „Der alte Pfarrer hat die Messe in zwanzig Minuten gelesen und war dann weg“, erzählt eine junge Frau. Er hat keinen Kontakt mit den Gläubigen gesucht. Ohindo ist die Nähe zur Gemeinde sehr wichtig. „Da habe ich ein hartes Erbe angetreten“, sagt er, langsam und eindringlich. Es klingt, als ob er sich jedes Wort genau überlege. „Richtig offen sind nur wenige zu mir.“ Dann blickt er unverwandt nach vorn. Das Priesterbild der Menschen entspricht nicht dem, was Ohindo gerne wäre. Ein Pfarrer liest die Messe, er nimmt die Sünden ab. Aber sein Bier im Gasthaus trinkt man lieber mit anderen. Er führt Prozessionen, ist bei Dorffesten eingeladen, aber in einer Runde unter Freunden wäre er fehl am Platz. Er war der Erste, den man holte, als sich ein Mann in diesem Jahr die Pulsadern aufschnitt. Ihm vertrauen die Menschen ihre Sorgen an, wem vertraut sich der Pfarrer an? Wenn Priester einsam sind, sind es ausländische besonders.
Exoten und Dorfmaskottchen
Ohindo macht gerne Sport. Er hat in Obertilliach Ski-Langlauf gelernt. Er hat mit der Gemeinde Fußball gespielt bis er krank wurde und aufhören musste. Außer montags liest er jeden Tag die Messe, an Sonn- und Feiertagen sogar dreimal. Zwischen Oktober und Mai betet er sonntags um vier Uhr früh mit den Gläubigen den Rosenkranz und Herz-Jesu-Litanei. Am letzten Freitag des Monats besucht er die Kranken, für die der Weg in die Kirche zu mühsam ist. Ausländische Priester sind meist nur wenige Jahre an einem Ort, werden abgezogen, bevor sie sich an die Gemeinde gewöhnen oder diese an sie – österreichische Kirchenpolitik. Also beschränken sich die Priester darauf, die Funktion zu erfüllen, für die man sie hergeholt hat. Sie sind Exoten, in manchen Orten gehören sie zum Inventar wie Dorfmaskottchen. Ohindo wird in Tirol bleiben, in den Kongo fährt er nur noch zu Besuch. Die Diözese Innsbruck hat ihn als ersten afrikanischen Priester inkardiniert, er untersteht ihr jetzt direkt und nicht mehr jener im Kongo. Seine Heimat ist ihm fremd geworden, sagt er.
Sonntag Nachmittag, morgen ist Ohindos einzig freier Tag. Wenn er den nächsten Bus nach Innsbruck schafft, kann er dort übernachten und muss erst am nächsten Abend zurück fahren. Mit großen Schritten stapft er Richtung Hauptstraße durch den Schnee – in Winterschuhen. In der Stadt will er sich afrikanische Gewürze kaufen. Kardamom, Bengalipfeffer und Ingwer. „Im Dorf koche ich damit Rezepte meiner Mutter.“ Für einen kurzen Moment wird Obertilliach dann nach Losele riechen.