aus dem Sinn
"Nur durch ein besseres Leben kann man wohl auch ein besseres System aufbauen."
Der 26. Jänner 1993 ging als einer der wichtigsten Tage der noch jungen Geschichte der Tschechischen Republik ein. An diesem Tag wurde der politische Aktivist, Schriftsteller und Künstler Vaclav Havel zum ersten Staatspräsidenten der am 1. Jänner 1993 neu gegründeten Tschechischen Republik.
1936 Havel wird geboren
1978 Veröffentlichung von "Versuch, in der Wahrheit zu leben"
1979 Gefängnisstrafe für Havel
1979 Uraufführung "Protest"
1989 Eintritt in die Politik
1993 Präsidentschaft
2011 Havel verstirbt
Vaclav Havel war ein Sinnbild, ja ein menschgewordenes Symbol, für die größte welt- und europapolitische Umwälzung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine latente Kritik am real existierenden Sozialismus des Sowjetregimes und der kommunistischen Regierung der Tschechoslowakei machten ihn für Westeuropa zu einem klassischen Dissidenten und Oppositionellen. Zu allererst war Havel jedoch ein Träger einer Idee, welcher er in seinem Leben und seinen Werken Ausdruck verlieh. Diese Idee war bestimmt von dem Drang nach einem "Leben in Wahrheit", authentischer gesellschaftlicher Selbstbestimmung und Freiheit.
Geboren 1936 in Prag erlebte Havel - aufgewachsen in einer bis zum politischen Umsturz einflussreichen bürgerlichen Familie - als Kind den 2. Weltkrieg, als Jugendlicher die Machtergreifung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ) 1948 und die damit einhergehende politische und ökonomische Umgestaltung des Landes nach sowjetischem Vorbild und als junger Erwachsener den "Prager Frühling" sowie dessen gewaltsame Niederschlagung. Dass Havel Ende 1989 als Kandidat des Bürgerforums (OF) von den noch bis dahin kommunistischen Vertretern der Föderalversammlung zum Regierungspräsidenten der Tschechoslowakei gewählt werden und das Land ein Jahr später zu freien Wahlen führen würde, konnte er damals wohl noch nicht ahnen.
"Versuch, in der Wahrheit zu leben"
War Havel zur Zeit des "Prager Frühlings" noch davon überzeugt, dass die Gründung einer oppositionellen Partei den Weg zu mehr Freiheit, Bürgerrechten und einer neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung ebnen könne, so hatte sich sein Zugang in seinem 1978 veröffentlichten politischen Essay "Versuch, in der Wahrheit zu leben" grundlegend verändert. Die, wie er sie bezeichnete, "posttotalitäre Gesellschaft", deren Charakter auf Pseudowirklichkeit, "Schein" und einer fundamentalen Krise der menschlichen Identität beruht, könne nur durch das "Leben in Wahrheit" auf der Ebene des menschlichen Bewusstseins überwunden werden. Allein die Moral von Einzelnen, den "Schein" aufzuzeigen, könne als Beispiel für alle dienen und eine politische Dimension entfachen, die imstande ist, die "posttotalitäre Ordnung" ins Wanken zu bringen. Dieses Potenzial des Einzelnen gelte es zu erwecken. "Solange der `Schein` nicht mit der Wirklichkeit konfrontiert wird, wird er nicht als `Schein` erkennbar." In diesem Sinne waren Havels Ausführungen bezüglich der systemischen Umgestaltungsmöglichkeiten in seinem Essay "Versuch, in der Wahrheit zu leben" bei Weitem revolutionärer, fundamentaler und rebellischer als noch zur Zeit des "Prager Frühlings".
Im Mitwirken in der `Charta 77`, einer jungen Künstlerbewegung, die nach Havels Worten "das passive Überleben" satt hatte und nach dem Prinzip "Es gibt keine Freiheit ohne Gleichberechtigung und es gibt keine Gleichberechtigung ohne Freiheit" handelte, kam Havels Wandel zum Ausdruck. Ein politischer und gesellschaftlicher Systemwandel könne seiner Meinung nach nur von unten nach oben zustande kommen:
"Sich von der Last der traditionellen politischen Kategorien und Gewohnheiten zu befreien, sich der Welt der menschlichen Existenz voll zu öffnen und erst aus der Analyse politische Schlüsse zu ziehen, ist nicht nur politisch realistischer, sondern auch - vom Standpunkt des idealen Zustands aus - politisch aussichtsreicher. (...) Es ist also nicht so, dass die Einführung eines besseren Systems automatisch ein besseres Leben garantiert, sondern eher umgekehrt - nur durch ein besseres Leben kann man wohl auch ein besseres System aufbauen."
Wie vielen anderen auch, kam ihm diese öffentliche und in literarischer Form geäußerte Systemkritik teuer zu stehen. Nach 1968 hatte Havel - Vorsitzender des Klubs unabhängiger Schriftsteller - in der Tschechoslowakei Aufführungs- und Publikationsverbot. Seine Werke wurden in dieser Zeit fast vollständig im deutschen Rowohlt-Verlag publiziert.
1978 wurde er zu 14 Monaten Gefängnis mit Bewährung verurteilt. Am 29. Mai 1979 kam es zur erneuten Verhaftung und am 24. Oktober 1979 zur Verurteilung zu viereinhalb Jahren Gefängnis ohne Bewährung. Aus seiner Gefängniszeit stammen seine berühmt gewordenen "Briefe an Olga", seiner Frau.
Havels literarisches Zeugnis
Havels Wirken stieß im Ausland auf breite Resonanz. Im Westen galt er als Inbegriff eines klassischen Dissidenten. Seine drei Einakter "Audienz"(1976), "Vernissage" (1976) und "Protest" (1979) stellen ein biografisches Zeugnis seiner selbst in der Rolle Ferdinand Vanèks dar. "Audienz" handelt von seiner Zeit als Hilfsarbeiter in einer Bierbrauerei, "Vernissage" von einer Zusammenkunft mit zwei Freunden, die sich als dem Regime gegenüber sehr unreflektiert und unkritisch verhalten. "Protest" - 1979 im Wiener Akademietheater uraufgeführt - behandelt Vanèks Treffen mit einem Bekannten, der dem System kritisch gegenübersteht, sich diesem jedoch aus Angst vor den persönlichen und beruflichen Konsequenzen nicht öffentlich entgegenstellt. Sie alle haben gemeinsam, dass sie weniger Vanèks Rolle als Regimekritiker und Märtyrer, sondern verschiedene Anpassungsmodelle seiner Gegenüber in einem System behandeln, das von einer unpersonalisierten, jedoch omnipräsenten Macht dominiert wird. Diese Macht, von welcher die "posttotalitären Gesellschaft" durchzogen ist, beschreibt Havel als äußerst manipulativ:
"Die Macht muss fälschen, weil sie in eigenen Lügen gefangen ist. Sie fälscht die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Sie fälscht statistische Daten. Sie täuscht vor, dass sie keinen allmächtigen und allem fähigen Polizeiapparat hat, sie täuscht vor, dass sie die Menschenrechte akzeptiert, sie täuscht vor, dass sie niemanden verfolgt, sie täuscht vor, dass sie keine Angst hat, sie täuscht vor, dass sie nichts vortäuscht."
Wie der Macht schreibt Havel auch dem Konstrukt "Ideologie" trügerische und den "Schein" wahrende Eigenschaften zu:
"Sie bietet dem irrenden Menschen eine leicht erreichbare »Heimat«. Man braucht sie nur zu akzeptieren, und gleich ist alles wieder klar, das Leben bekommt einen Sinn, und es gibt keine Geheimnisse mehr, keine Fragen, keine Unruhe und keine Einsamkeit. Für diese billige »Heimat« muß der Mensch freilich teuer bezahlen: Mit der Absage an seinen Verstand, sein Gewissen und seine Verantwortung."
Vermitteln Havels Stücke und sein politisches Essay eine sehr ohnmächtige und pessimistische Stimmung, die obendrein kein absehbares Ende zu haben scheint, so hat sich das Element des Umbruchs besonders in Havels 1986 erschienenem Stück "Sanierung" festgesetzt. "Sanierung" handelt von der geplanten Zerstörung eines alten Wohnviertels, da dieses als nicht mehr zeitgemäß erscheint. Der geplante Neubau spiegelt die unterschiedlichen Interessen und Vorstellungen zwischen den Bewohnern und der Obrigkeit wider. Die zeitliche Parallele von "Sanierung" und den sich ab 1985 verstärkenden Reformversuchen diverser kommunistischer Regime lassen hier großen Spielraum für Interpretationen zu.
Moralische Kompromisslosigkeit, Künstlerdasein und sterile Alltagspolitik
Vaclav Havels Eintritt in die offizielle Politik erfolgte schließlich im Zuge der "Samtenen Revolution" in den Novembertagen des Jahres 1989. Zusammen mit Alexander Dubček, einem Reformer innerhalb der KSČ, forderte er die kommunistische Parteiführung am 24. November auf dem Prager Wenzelsplatz zum Rücktritt auf. Am 29. Dezember 1989 wurde Havel durch die kommunistischen Abgeordneten zum Staatspräsidenten gewählt. Havels Einsatz für die Beibehaltung der Tschechoslowakei führten bei den nächsten Präsidentenwahlen am 3. Juli 1992 zu einer Niederlage. Nach der friedlichen Teilung von Tschechien und der Slowakei wurde er schließlich am 26. Januar 1993 mit großer Mehrheit zum Präsidenten der Tschechischen Republik gewählt und am 20. Januar 1998 in seinem Amt bestätigt. Jenes bekleidete er bis zu seiner Abwahl im Jahr 2003.
Havels Dasein in der offiziellen Politik wird als ambivalent eingeschätzt. Der Spagat zwischen moralischer Kompromisslosigkeit, Künstlerdasein und steriler Alltagspolitik hinterließen Spuren an der schillernden Lichtgestalt. Jetzt war er selbst Teil von dem System - auch wenn es nun demokratisch war -, an dessen gestalterischer Kraft er zweifelte. Vor allem weil auch die Demokratie für Vaclav Havel kein Allheilmittel für die, wie er sie bezeichnete, "planetare Krise" war, in der der Mensch sich seiner Meinung nach befinde. Denn nach Havel habe auch die Demokratie keine Lösung parat, die es dem Menschen ermöglichen würde, sich der Eigenbewegung der technischen Zivilisation und der Konsum- und Industriegesellschaft zu widersetzen. Vielmehr würde diese Eigenbewegung die dringende Notwendigkeit einer "existenziellen Revolution" - im Sinne einer Befreiung des Menschen aus seinem "gedanklichen, sittlichen, politischen und sozialen Elend" - verschleiern.
Vaclav Havel, verstorben am 18. Dezember 2011, ist nichts desto trotz als einer der letzten großen europäischen Staatsmänner in die Geschichte eingegangen. Der politische und gesellschaftliche Umbruch in Mittel- und Osteuropa ist ohne ihn ebenso wenig zu denken, wie die spätere Eingliederung der Tschechischen Republik in die Europäische Union.
Das Streben nach individueller Freiheit, einem "besseren Leben" und einer authentischen gesellschaftlichen Selbstorganisation waren seine Triebfedern - Politik, politischer Aktivismus und Literatur sein Werkzeug.
Quellen
Vaclav havel: Vanek-Trilogie (1989); Rohwohlt Taschenbuch Verlag GmbH
Vaclav Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben. Von der Macht der Ohnmächtigen (1980); Rohwohlt Taschenbuch Verlag GmbH