Reportage

Verdammte Stadt

Kein Mensch, der in der Stadt Auschwitz lebt, spricht ihren Namen aus. Wer das tut, von dem wissen alle: Der ist nicht von hier. Auf Polnisch heisst die Stadt Oświęcim. Das klingt nicht nach Hitler, nicht nach KZ. Mit dem berühmten Namen kommt der Fluch. Und Flüche spricht man nicht aus.


27. Januar 1945. Ein kalter, trüber Samstag. Die Rote Armee der Russen hat über Nacht Oświęcim erreicht. Die Brücken, die über den Fluss Sola vom Städtchen zum Konzentrationslager Auschwitz führen, sind gesprengt, die Deutschen geflohen. 7.000 Gefangene sind noch übrig, um befreit zu werden. Die Krematorien sind noch warm.

Seit 2005 gedenkt die Welt an diesem Datum den Opfern des Holocausts. Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau wird zum Mahnmal, zum Symbol für die umfassendste Vernichtungsmaschinerie unserer Zeit. 1947 wird aus dem KZ ein Museum, 25 Millionen Menschen haben den Ort des Grauens seither besucht. Seit 1979 ist das Museum Auschwitz-Birkenau Unesco-Weltkulturerbe.

Auschwitz ist das Epizentrum aller Nazi-Ideen, der Kern des Grauens, der Ort des Fluchs. April 1940, Baubeginn des grössten Konzentrationslagers. 1941, Beginn der Massenvernichtung. Die erste Schusswand. Die ersten Massensterilisierungen. Erste Anwendungen des Blausäurepräparats Zyklon B in den Gaskammern. Bau des Vernichtungslagers KZ Auschwitz II-Birkenau. Die grössten Leichenberge. Die meisten Toten. 1,1 Millionen Juden sterben, Zehntausende Sinti, Roma, Behinderte, Homosexuelle, Kommunisten.

Auch in Auschwitz scheint die Sonne

Im Häuschen neben dem Todestrakt gibt es Coca Cola, Wasser und kleine Snacks zu kaufen. Den Todestrakt empfiehlt der Pressesprecher besonders. Block 11, ganz hinten, letztes Haus rechts, wo die meisten Menschen anstehen. Wartezeit zehn Minuten, die Schlange ist etwa 50 Meter lang. Einige der Besucher haben ihre Sonnenbrillen montiert, tragen ihre Daunenjacken auf dem Arm. Sonnenschein in Auschwitz. „Dieses Museum steht hier, um den Leuten auf der Welt begreiflich zu machen, dass sie eine Verantwortung haben. Dafür, welchen Lauf unser Leben nimmt, welche Entscheidungen getroffen werden“, sagt Pawel Sawicki, Pressesprecher des Museums Auschwitz-Birkenau.

Heute sitzen Jugendliche auf der Treppe vor dem Eingang zum Museum Auschwitz, mit Chipstüten in ihrer Hand, und lecken sich ihre salzigen Finger. In der Eingangshalle des Museums steht ein Postschalter, wo die Besucher Postkarten direkt ab Ort des Grauens verschicken können. Ein Stockwerk weiter unten sitzt eine polnische Putzfrau am Tischchen vor den nummerierten Toiletten und verlangt Eintrittsgeld für die Notdurft.

Das KZ Auschwitz: Teil eines Touristen-Packages

Die meisten Menschen, die nach Auschwitz kommen, bleiben nicht in Auschwitz. Für die meisten Menschen ist Auschwitz kein wirklicher Ort, nichts, was Leben verspricht. Hier wartet bloss ein grosses Gelände im Feld, mit einer Gaskammer, Stacheldrähten, einer mittelmässigen Museums-Cafeteria und einem grossen Bus-Parkplatz. Die meisten Menschen sehen das, was sie unter Auschwitz verstehen, zwei Stunden lang. Danach kehren die Touristen zurück nach Krakau, in die grosse, pulsierende Stadt, die viel mehr ist als ein blosses Mahnmal. „Krakau vermarktet sich gut - und Auschwitz gehört zum Touristen-Package mit dazu“, sagt Zsolt Keller, Historiker am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel. 2002 besuchten 500.000 Menschen das Museum Auschwitz-Birkenau. 2012, zehn Jahre später, waren es rund 1,5 Millionen - ein Anstieg um 200 Prozent. Massentourismus am Ort der Massenvernichtung.

Doch warum boomt Auschwitz? „Geschichts-Tourismus boomt. Die Leute wollen die Kriegsschauplätze live sehen“, sagt Keller. Das Fernsehen würde mit Wissenssendungen en masse dazu beitragen. Ohnehin sei der Holocaust primär Populärkultur. „Die ersten Bilder von Auschwitz waren Bilder des Schreckens, dann kam Anne Frank, kamen Theaterstücke, Filme. Die wissenschaftliche Aufarbeitung kam erst sehr viel später.“

Am Eingang des Museums erhält jeder Besucher graue Kopfhörer. So können 250 Dolmetscher, die an 365 Tagen im Jahr für das Museum im Einsatz sind, live in 20 Sprachen übersetzen - der Besucher hat so jederzeit jemanden im Ohr, der ihm von menschlichen Grausamkeiten erzählt, die sein eigenes Fassungsvermögen überschreiten. „Dieses Grauen, das hier einmal war, das können wir gar nicht mehr empfinden“, sagt Keller. „Die Krematorien sind alle sauber und steril, die Insassen verschwunden. Auschwitz, so wie es wirklich war, übersteigt unsere Vorstellungskraft. Auschwitz kommt verdammt normal daher.“

„Auschwitz ist Nervenkitzel“

Im Januar 2012 hat das Museum Auschwitz-Birkenau einen neuen Besucherrekord vermeldet. Im April 2012 hat das Museum den Zugang für Einzelbesucher beschränkt. Bis Ende Oktober mussten sich Individualreisende bei einem Besuch des Stammlagers Auschwitz I in der Zeit von 10 bis 15 Uhr geführten Gruppen anschliessen. Zu viele Menschen wollten nach Auschwitz-Birkenau.

Es ist der Sog des Bösen, der uns Menschen in seinen Bann zieht. Durch Auschwitz wollen wir alle durch. Das Leiden ruft, und wir wollen mitleiden. „Wir sind vom Grauen angewidert, schauen aber trotzdem hin“, sagt Keller. Der Besuch des Konzentrationslagers habe etwas Voyeuristisches. „Da ist dieses beklemmende Gefühl und gleichzeitig der Stolz darüber, dass man sich dem Grauen ausgesetzt hat. Auschwitz ist Nervenkitzel.“

In Oświęcim steht eine der wenigen Universitäten der Welt, an der man das Fach Holocaust studieren kann. An den Wochenenden feiern die Studenten im Nightclub Uklad wilde Parties, manche fahren davor mit ihren tiefer gelegten Autos ein paar Runden durch die Altstadt. In der Nähe von Auschwitz werden Autos für die italienische Marke Fiat hergestellt, und unweit davon wiederum Möbel für Ikea. Aus den von KZ-Häftlingen aufgebauten Buna-Werken wurde die heutige Chemiefirma Synthos S.A. Sie ist der wichtigste Arbeitgeber der Stadt. Der zweitwichtigste ist das Museum Auschwitz-Birkenau.

Wilde Parties, Autos für Ikea, Spaziergänge am Fluss

Der Tourismusverantwortliche von Auschwitz sagt, am Fluss Sola könne man schön spazieren gehen. Vergangenen Sommer hat die Stadt ein Musikfestival organisiert, 15.000 Menschen kamen, Gunther Gabriel war der Star-Act. 40.000 Menschen leben hier. 30,3 Quadratkilometer Fläche. In Auschwitz gibt es zwei Tattoo-Studios, ein Schwimmbad, in welchem ein polnischer Olympia-Schwimmer trainiert, und eine Hockey-Mannschaft, die zu den besten in ganz Polen gehört. Auschwitz hat eine neue Bibliothek gebaut, mit gläsernen Fronten hinter Gitterstäben, darauf ist der Tourismusverantwortliche sehr stolz. „Die Menschen hier stört es, dass dieser riesige Schatten über ihnen hängt, den sie nicht loswerden“, sagt Pressesprecher Sawicki. „Es war ja nicht ihre Idee, hier ein Konzentrationslager zu bauen. Ich für meinen Teil finde, dass dieses Konzentrationslager zu uns dazu gehört. Es ist nun mal passiert, und damit müssen wir uns auseinandersetzen.“

Im Hotel Galicja Wellness & Spa, dem bekanntesten Hotel in Oświęcim, übernachteten schon Prinz Willem Alexander und seine Maxima von Schweden, der Zwillingsbruder des verstorbenen polnischen Präsidenten Lech Kaczyński und Jacques Chirac. Das Hotel liegt weit weg vom Konzentrationslager, auf der gegenüberliegenden Seite der Stadt. Wenn schon in Auschwitz schlafen, dann lieber in der Nähe eines Chemieareals der Firma Synthos S.A. als neben einem ehemaligen Krematorium für Juden. „Man schläft nicht gern an einem Ort wie Auschwitz“, sagt Keller. „Nicht nur, weil die Infrastruktur fehlt. Oświęcim ist untrennbar verbunden mit dem Bösen. Selbst die Polen leben nicht gerne dort.“


Fotos: (c) Anna Miller