Paroli
In der Dimension der Grenzenlosigkeit, da liegt die Sucht
Unsere Gesellschaft ist geprägt von Süchten und umgekehrt. Ein einführender Blick in eine gefährliche Welt. Über alte und neue Suchtformen.
„In unserer globalisierten und akzelerierten Welt suchen immer mehr Menschen Zuflucht in Zuständen, die den Druck auf die Person scheinbar reduzieren und weniger spürbar machen. Rauschzustände werden zu Rückzugsräumen, sie entlasten kurzfristig und versetzen in einen anderen Bewusstseinszustand. Diese Zuflucht aber kann den Charakter des Rückzugs von der eigenen Gefühlswelt, den Charakter der Flucht vor einer Realität, deren Teil man selbst ist und die als feindlich empfunden wird, annehmen. Beginnt der Rauschzustand die Herrschaft über den Willen dauerhaft zu übernehmen, sprechen wir von Sucht. (Batthyány et al., 2009, S. V)
Sucht und Abhängigkeit
Heutzutage werden die Begriffe Abhängigkeit und Sucht oft analog verwendet. Während die WHO (Weltgesundheitsorganisation) im Jahre 1950 noch von Drogensucht sprach, wurde der Begriff in den 1960er Jahren durch die Bezeichnung Drogenabhängigkeit ersetzt. Doch auch diese — für die stoffgebundenen Süchte — festgelegte Bezeichnung konnte den stigmatisierenden Suchtbegriff nicht verdrängen. Demnach ist geklärt, dass — entgegen vieler Ausführungen — sich diese zwei Begrifflichkeiten keineswegs ausklammern oder gar etwas anderes bezeichnen. Der Psychiater und Psychotherapeut Wolfgang Gombas erklärt den Übergang von normalem zu suchtartigem Verhalten als fließend.
Wer ist suchtgefährdet?
Nach Gombas gibt es genetische Versuche, die testen, ob Menschen eine Disposition für eine Alkoholabhängigkeit entwickeln können. So gäbe es gewisse Hinweise, dass manche Personen leichter in süchtiges Verhalten geraten können als andere. Hier werde die klassische Konditionierung, also unser Belohnungssystem, bedient. Dieses System hat jeder Mensch, bei einigen ist es jedoch stärker ausgeprägt. Solche Leute seien generell anfälliger, Süchte zu entwickeln. "Für die substanzgebundenen Süchte wenigstens, wo der Belohnungscharakter unmittelbar folgt, also ich trinke etwas und fühle mich besser oder ich spritze mir Heroin und empfinde sofort Wirkung, kann man sich das leicht vorstellen", erklärt Gombas. Bei den nicht-substanzgebundenen Süchten sei dies jedoch unterschiedlich. Hier könne man keine einheitliche Aussage treffen. "Denkt man beispielsweise an die Spielsucht, da kann man auch innerhalb von Sekunden einen Gewinn machen." Durch das Internet werden diese Süchte aber gut bedient und die Geschwindigkeit der Belohnungseinkehr vorangetrieben, man denke nur an Sexsucht, bedient durch Seiten wie youporn, oder an Kaufsucht, bedient durch Shopping-Portale jeglicher Art.
Heroin, Alkohol und die utopische Vorstellung vom Kiffen
Klassifizierung von Süchten
Um Süchte oder Krankheiten zu klassifizieren, gibt es die ICD. ICD ist die Abkürzung für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems”. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat diese internationale Klassifikation aller bekannten Krankheiten und Gesundheitsprobleme herausgegeben. ICD-10-2006 - so heißt die heute gültige Version. Alle nennenswerten Krankheiten werden hier kategorisiert. Momentan liegen zwei gängige Klassifikationssysteme für psychische Störungen vor. Neben der bereits erwähnten ICD-10 gibt es noch das der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA), das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-IV). Beide Systeme haben sich in der neusten Version stark einander angenähert, um Diagnosen über Grenzen hinweg vergleichbar zu machen.
Nach Gombas ist es in den letzten Jahrzehnten zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem Thema Verhaltenssucht gekommen. Bezüglich einzelner Formen der Verhaltenssucht bestehen bereits Überlegungen, sie in Diagnosesysteme aufzunehmen – wie es bei der Glücksspielsucht schon teilweise erfolgt ist. Bis zum heutigen Tag wird die Internetsucht im therapeutischen Alltag unter der Kategorie „Sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“ der ICD-10 diagnostiziert, welche die Krankheit allerdings nicht in allen Aspekten erfassen kann. Die Klassifikation von Verhaltenssüchten ist kompliziert, da diese bislang kaum in den Diagnosesystemen aufscheinen und somit auch keine einheitlichen Kriterien für die Diagnosestellung aufscheinen. Deshalb orientieren sich einige Kriterien an den Diagnoseschlüsseln für die Glücksspielsucht, die mittlerweile als Krankheit in der Öffentlichkeit akzeptiert ist.
Die "neuen" Süchte
Bisher standen eher Süchte, die von psychotropen Substanzen ausgelöst werden, im Vordergrund der Wahrnehmung: Alkohol, Heroin, LSD und Ecstasy oder auch Tabak. Heute gibt es eine neue Gruppe von Süchten, die sich ohne Zuführung von Substanzen entwickeln. Man spricht hier etwa von Internet-, Sex-, Kauf-, Spiel-, Sport- oder Arbeitssucht. Erste Hinweise aus der Hirnforschung besagen, dass hier ähnliche Hirnprozesse zu beobachten sind wie bei den substanzgebundenen, also stofflichen, Süchten. Dabei sind diese „neuen“ Süchte oft gar nicht so neu. Sie standen lediglich nicht im Aufmerksamkeitsfokus der Experten.
Was geschieht bei einer Sucht?
Sucht ist der Ausgleich eines vorhandenen Defizits. Die betroffene Person wählt das für sie "passende" Suchtmittel aus, um das entsprechende Defizit auszugleichen. Was zu Beginn meist unauffällig scheint, mündet in übermäßigem Gebrauch oder Verhalten und kann sich dann zu einer Sucht entwickeln:
„Wenn ein als belohnend empfundenes Verhalten ausgeführt wird, kommt es zu einer Aktivierung des Belohnungssystems im Gehirn. […] Liegt bei der durchführenden Person ein biochemisches Ungleichgewicht der Botenstoffe vor, kann von einer sich potenzierenden Wirkung des Belohnungseffektes ausgegangen werden. […] Im Laufe einer Suchtentwicklung bekommt das belohnende Verhalten immer mehr die Funktion, Stresssituationen inadäquat zu bewältigen bzw. zu verarbeiten. Somit wird das belohnende Verhalten weiter – nun vor allem negativ – verstärkt und häufig zweckentfremdet ausgeführt." (Thalemann, 2009, S. 12)
- (c) S.R. Ayers
Quellen
Dominik Batthyány (2009): Rausch ohne Drogen
Thalemann. Verhaltenssucht (2009) in: Batthyány. Rausch ohne Drogen
Dr. Wolfgang Gombas
Videos: Yvonne Widler