Paroli

Der zwanghafte Lauf ins Ungewisse

Etwa ein Prozent der Freizeitsportler sind krankhaft süchtig nach Sport. Doch die Sportsucht geht häufig in die Magersucht oder Bulimie über und nimmt schlagartig andere Dimensionen an.


„Der große Sport fängt erst da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein.“ – Bertolt Brecht

„Ich verstehe darunter ein exzessives Betreiben von Sport“, erläutert Dr. Lisa Tomaschek-Habrina, Leiterin des Unternehmens „so what“, das „professionelle, interdisziplinäre Unterstützung für Menschen, die von Essstörungen betroffen sind“, anbietet. Und führt weiter aus: „Dabei unterscheidet man zwischen der anorexia athletica und bulemia athletica.“

Leben nach einem Schönheitsideal

Sportsucht zählt zu den nicht-substanziellen Süchten und hängt sehr stark mit dem Krankheitsbild Essstörung – Magersucht oder Bulimie - zusammen. Warum eigentlich? „Es gibt viele verschiedene Arten von Essstörungen, die im weiteren Sinne auch mit der Sportsucht zusammenhängen. Viele meinen, dass sie durch das exzessive Betreiben von Sport alles um sich herum und damit ihre Probleme vergessen. Zudem setzt es Glücksgefühle und Adrenalin frei. Und das alles machen sie, um keinen Gramm zuzunehmen. Damit regulieren sie also ihr Körpergewicht“, erklärt Dr. Tomaschek. 

Die betroffene Person hegt also ein suchtartiges Verhalten nach sportlichen Aktivitäten und äußert diese in Form eines überkompensierten und krankhaften Trainingsverhaltens, das seelische und körperliche Beschwerden hervorruft. Aber nicht etwa um sich auf einen bevorstehenden Wettkampf vorzubereiten. Eine bestimmte Sportart, die federführend für Sportsucht steht, gibt es nicht. Am häufigsten wurde diese aber bei Ausdauer- oder Risikosportlern sowie bei Bodybuildern nachgewiesen. Die Sportsucht ist an sich aber sehr selten. Etwa ein Prozent der Freizeitsportler leidet darunter. Ähnlich wie bei anderen Süchten sind die Auswirkungen auf das Umfeld. Die sozialen Kontakte, die privaten Pflichten, die Arbeit und die eigene Gesundheit werden vernachlässigt.

Letzteres geschieht vor allem durch bewusste Vernachlässigung der eigenen Ernährung, wie Dr. Tomaschek festhält: „Sie lassen bewusst Mahlzeiten aus und betreiben Sport, um, wie schon vorhin erwähnt, ihr Gewicht zu regulieren und nicht zuzunehmen. Man verarbeitet die Sportsucht also über das Essen. Oft sind es ein, zwei Mahlzeiten die man umgeht oder man vergisst gänzlich auf das Essen. Der Körper kann sich dadurch nicht regenerieren und auch die Muskeln entwickeln sich nicht wie erhofft. Man befindet sich in einer Abwärtsspirale, die für uns nicht logisch erscheint, aber die Person hat die Kontrolle über ihr Leben und ihren Körper verloren - und das macht es letztendlich aus.“ Sie ergänzt: „Wir leben nach einem Ideal: schön, rank und schlank. In der Früh isst der Betroffene einen Apfel, zu Mittag ein Brot, am Abend wenig bis gar nichts.  Damit kann ich vielleicht leben, aber nicht überleben.“

Sport als Dreh- und Angelpunkt

Verliert sich die betroffene Person in dieser Abhängigkeit, wird der Sport zum Lebensmittelpunkt. Der Tag wird nach eben diesem eingeteilt und Familie sowie Arbeit bewusst vernachlässigt. Kann der Sport aufgrund von Verletzungen oder Krankheiten einmal nicht durchgeführt werden, führt das zu einer Unausgeglichenheit der Betroffenen. Nervosität, Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Zittern, Schuldgefühle, innere Unruhe, Aggressionen, Lustlosigkeit, Depressionen und Angstzustände sind häufige Symptome.  Bezeichnend ist vor allem, dass diese Person versucht das Trainingspensum ständig zu erhöhen, um die vollständige Erschöpfung zu erreichen und ignoriert dabei die Signale ihres Körpers, die diese zu Ruhepausen auffordern.  

Doch in welcher Intensität ist Sport eigentlich gesund? Es heißt, man könne zwei-, dreimal eine Trainingseinheit von 30 bis 60 Minuten bei mittlerer Intensität absolvieren, ohne nachhaltige gesundheitliche Probleme zu verursachen. Abhängig ist dies jedoch vom persönlichen Fitnesszustand. Priorität hat die Trainingspause oder Erholungsphase von 24 bis 48 Stunden, die es einzuhalten gilt. Wird diese nicht berücksichtigt, sinkt die Leistung des Menschen drastisch, das Verletzungsrisiko erhöht sich und auch die gewünschte Ausbildung des Körpers kann nicht erfolgen. Nur ein Leistungssportler oder Sportler, der einen Sport seit mehreren Jahren trainiert, benötige kürzere Regenerationsphasen von etwa drei bis zwölf Stunden. 

Natürlich bringt die Sportsucht für die betroffene Person massive Folgeschäden mit sich. Durch das exzessive Betreiben des Sports sowie die Vernachlässigung der Regenerationsphasen, wird der Körper anfälliger für Verletzungen - Knochen, Gelenke, Bänder und Sehnen werden zu stark beansprucht. Auch das Immunsystem ist davon betroffen, wird geschwächt und der Mensch ist somit angreifbarer für Infekte. 

Bulimie als „beste Freundin“

„Eine andere Art von Essstörung kann eine Diät sein. Man hat Übergewicht und schafft es abzunehmen, bekommt dadurch Anerkennung, fühlt sich besser, und kann letztendlich mit dieser Diät nicht mehr aufhören. Man möchte den Erfolg nicht gefährden, den man damit erreicht hat und erleidet letztendlich eine Bulimie.“ Auslöser „kann auch eine Trennung der Eltern sein, ebenso Gewalt und sexueller Missbrauch in der Vergangenheit“, erklärt Dr. Tomascheck. „Jede zweite Ehe ist geschieden. Wir finden diesen Familienstand nicht immer, aber sehr häufig in den Biografien der 500 - 600 Klienten, mit denen wir zusammenarbeiten. Bei familiären Problemen oder Scheidungen weiß man nie so genau, in welche Richtung sich das für einen selbst entwickeln kann und wie man damit umgehen soll. Viele versuchen das über das Essen. Viele Mädchen bezeichnen ihre Bulimie gar als ihre beste Freundin. Sie wissen dann, dass jemand da ist.“

Ein erheblicher Unterschied zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht lässt sich dabei ausmachen: „Betroffen sind vor allem Mädchen, die zwei Drittel ausmachen. Burschen hingegen essen eher mehr als weniger. Sie kompensieren es nicht mit dem Sport, sondern essen eher in sich hinein.“

Häufig hilft dann nur noch eine Therapie. Dr. Tomascheck zeigt sich hier optimistisch: „Die Erfolgschancen existieren, die Essstörung ist heilbar, aber der Weg ist ein schwieriger. Je früher die Patienten zu uns kommen, desto besser und leichter kann man dieses Krankheitsbild therapieren und einen Lösungsweg finden.“ Bei chronischen Fällen, die schon 20 bis 30 Jahre mit einer Essstörung zu kämpfen haben, sei es bedeutend komplizierter: „Selbst wenn man geheilt ist, ist die Verführung immer da, sich womöglich den Finger in den Mund zu stecken und zu erbrechen. Man muss versuchen dieser Person eine andere Möglichkeit aufzuzeigen, mit Stress umzugehen, diesen anders zu verarbeiten.“  

Die Verführung, sich den Finger in den Mund zu stecken und zu erbrechen,  sei demnach immer da. So können Betroffene auch rückfällig werden: „Wobei das natürlich individuell anders ist. Wenn man über 20 Jahre an einer chronischen Essstörung leidet, kannst man nicht von heute auf morgen mit einer Besserung rechnen.  Diese Menschen haben einen unglaublich langen und harten Leidensweg hinter sich, wurden oft auch stationär behandelt und haben eine Psychotherapie gemacht. Aber sie kommen oft nie davon los. Wenn diese Person bereits eine schlanke Figur hat, dann ist es noch schwieriger, denn sie möchte die Anerkennung dafür nicht aufgeben.“  

 „Langfristig kommt es bei 50 – 60 Prozent der Betroffenen zu einer vollständigen Genesung bzw. Spontanremission, bei 20 – 30 Prozent zu einer deutlichen Verbesserung. Zu einer Chronifizierung der Bulimie kommt es bei 20 Prozent. Verglichen mit Anorexie ist die Sterberate mit 0,5 Prozent deutlich geringer. Im Durchschnitt genesen 55 Prozent der Betroffenen innerhalb von 5 Jahren vollständig .“ 

„Wir müssen den Selbstwert der Kinder steigern“

Müsste man dann nicht bestimmte Sendeformate, die dieses Schönheitsideal fördern, einstellen oder zumindest mit einer Altersbeschränkung versehen? „Wir leben in einer Demokratie, deswegen wird man diese Formate nicht verbieten können. Es wird das gezeigt, was wir gerne sehen. Wir können den Medien nicht vorschreiben was sie veröffentlichen und umgekehrt.“ Viel wichtiger ist für Dr. Tomascheck etwas anderes: „Wir müssen den Selbstwert der Kinder steigern, ihnen zeigen, dass man immer hinter ihnen steht und nicht vorleben, dass es nur Größe 32 gibt. Ich denke, dass das ein gesellschaftliches Problem ist. Ich bin aber ein Mensch, der grundsätzlich gegen Verbote ist, denn diese machen es erst interessanter.“

 „Je ‚entwickelter‘ ein Land ist, desto größer ist die Schere zwischen Idealgewicht und Realgewicht und umso unzufriedener sind vor allem Frauen mit ihrem Körpergewicht. Kaum eine Frau in Österreich hat noch keine Diät gemacht. Diäten wiederum stehen häufig am Anfang einer Essstörung. 82 Prozent derjenigen, die mindestens drei Diäten gemacht haben, berichten von Essproblemen.“ 

In den letzten Jahren ließ sich aber in dieser Hinsicht ein positiver Trend ausmachen: „Viele Mädchen haben heute einen ganz anderen Background und haben den Charakter dieser Sendeformate erkannt“, so Dr. Tomaschek.

In Österreich leiden von den etwa 8,4 Millionen Einwohnern 24. 000 Menschen an Bulimie. Von den 15- 20- jährigen Mädchen ist 1 Prozent magersüchtig. Das sind 2.500 Mädchen. „Die Kinder, die sich mit dem Thema Gewicht und Figur beschäftigen und entsprechende kompensatorische Maßnahmen durchführen, dürften immer jünger werden. Bereits sehr junge Kinder (40 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Österreich zwischen 9 und 15 Jahren) machen sich – unabhängig vom tatsächlichen Körpergewicht – Sorgen um ihr Aussehen und haben im Schnitt ab zwölf Jahren mindestens drei Diäten ausprobiert.“ 

Jedes Jahr rund 1.800 Neuerkrankungen

Jährlich gibt es etwa 660 Menschen im gesamten Bundesgebiet, die an Anorexia – Magersucht – erkranken. In Wien sind es zirka 133. Der Bulimie verfallen in Österreich jährlich geschätzte 1.140 Personen, auf Wien übertragen sind das etwa 230 pro Jahr. 


  • Dr. Tomaschek-Habrina [beigestellt]

Quellen

www.sucht.at

 

Wissenschaftliche Zahlen und Daten zu Essstörungen:

"so what"

 

Institut für Menschen mit Essstörungen

 

Foto Startseite: (c) S.R. Ayers