Reportage
Wien
Im Nonett der österreichischen Bundesländer nimmt Wien in jeder Hinsicht eine außergewöhnliche Stellung ein. Es ist das kleinste aber bevölkerungsreichste Bundesland und die einzige Großstadt der Republik. Die Mentalität ihrer Bewohner bewegt sich seit Jahrhunderten zwischen Weinseligkeit und Völkermord.
Wenn die Römer gewusst hätten, dass sie mit der Errichtung ihres Militärlagers Vindobona eine zweitausendjährige Ära von Alkoholismus, Vernaderei und Suderantentum einläuten würden, sie hätten sich's vielleicht anders überlegt. Andererseits hätten die Babenberger dann 1146 die Hauptstadt des frisch aus der Taufe gehobenen Herzogtums Österreich nicht hierher verlegen können und Krems als Kapitale wäre doch ein bisserl fad gewesen. Also kam es, wie es kommen musste: Wien wurde Wien und bleibt seitdem wie es ist.
Wien wird Wien
Um Wien intellektuell aufzuwerten holte Herzog Heinrich Jasomirgott ein paar irische Mönche in seine Residenzstadt. Sie bauten ein Stift und Kirchen, die – da man damals nicht zwischen den Iren und den gleichfalls keltischen Schotten unterschied – noch heute ihren Namen tragen. Die erste große Stadterweiterung wurde auf Basis des Wienerischen Opportunismusprinzips finanziert. König Richard von England hatte den Fehler gemacht, den Babenberger Leopold V. in Jerusalem zu pflanzen und wurde auf dem Heimweg in Österreich geschnappt. Die sich bietende Gelegenheit wurde wahrgenommen und die englische Krone musste ein ganzes Jahresbudget für die Freilassung ihres Trägers an die Österreicher abdrücken. Von dem Geld wurde in Wien der Graben vor dem Stephansdom zugeschüttet und eine neue Mauer weiter draußen errichtet. Nach dem Aussterben der Babenberger und König Ottokars Glück und Ende übernahmen die Habsburger das Szepter in der Stadt. Am 12. März 1365 stiftete Rudof IV. - ein ausgefuchster Urkundenfälscher und sinnigerweise „der Stifter“ genannt – eine Universität, heute die älteste und größte im deutschsprachigen Raum. Der 12. März ist sonst ein eher ungut konnotierter Wiener und irgendwie auch österreichischer Schicksalstag. An diesem Datum entschied Herzog Albrecht V. 1421, dass alle Juden der Stadt, die noch nicht im Kerker erfroren waren und die er noch nicht zwangsgetauft, ersäuft oder in Booten die Donau hinab treiben hatte lassen, hingerichtet werden sollten. Über 200 Menschen wurden verbrannt. Sein unglückseliger Nachfahre Kaiser Leopold I. ließ die Juden 1669 dann erneut vertreiben und den Stadtteil, den sie erst urbar gemacht hatten, nach sich benennen. Dass die Wiener auch sonst seit jeher nicht zimperlich waren, berichtet schon die Schedelsche Weltchronik von 1493, in der vom Kloster des Heiligen Hyronimus berichtet wird, in welchem bekehrte „suendig frawen“ Zuflucht finden würden, die aber „in widerkerung der suend begriffen wirdt. die wirdt in die Thonaw gestuertzt“. Eine unsanfte Tortur die übrigens auch Bäcker erleiden mussten, die – wie die Deutschen sagen würden – zu kleine Brötchen gebacken hatten.
Das nicht ganz so goldene Zeitalter
Nach mehreren Pestepidemien und zwei vergeblichen Türkenbelagerungen geriet die Stadt schließlich in den Strudel der Napoleonischen Kriege und wurde zweimal von französischen Truppen besetzt. Nach dem Abgang des kleinen Korsen waren es schließlich die Wiener, die für den folgenden exzessiven Friedenskongress bezahlen mussten. Der Staat stand kurz vor dem Bankrott und Kaiser Franz ließ das Papiergeld abwerten. Die Bevölkerung murrte, hielt sich aber ansonsten an die Einschätzung Beethovens, wonach der Wiener nicht revoltiere, solange er Bier und Würstel habe. Zumindest eines von beidem dürfte 1848 ausgegangen sein, denn die aufgebrachte Bevölkerung zwang damals nicht nur den kaiserlichen Hof zur Flucht, sondern laternisierte auch den Kriegsminister Latour am Hof. Der erst 18-jährige Kaiser Franz Joseph griff hart durch und füsilierte seinerseits etliche Revoluzzer. Dafür ließ er dann später seine Reichshaupt- und Residenzstadt rundum erneuern. Mit der knackigen Eingangsformel „Es ist mein Wille...“ ließ der Kaiser zunächst Bastille und Glacis schleifen und schließlich auf dem vorgelagerten Feld das errichten, was wir heute als das Wien der Gründerzeit kennen. Trauriger Nebeneffekt war die Auslöschung von fast allem, was vom mittelalterlichen Wien noch übrig geblieben war. Die Hauptstadt wurde dadurch jedoch zur vierten Metropole auf dem Globus, die mehr als zwei Millionen Einwohner hatte, ein kosmopolitischer Schmelztiegel und gleichzeitig Hauptstadt eines Riesenreiches. Das alles nahm ein jähes Ende, als die Habsburger 1918 ihren letzten Krieg verloren. Viele Bewohner gingen zurück in die nun unabhängigen Kronländer, die Einwohnerzahl sank wieder unter zwei Millionen, trotzdem lebte in der nunmehrigen Bundeshauptstadt fast ein Drittel aller Österreicher, mit Niederösterreich – zu dem es zunächst gehörte – war es sogar die Hälfte. Die beiden Länder trennten sich jedoch rasch und wickelten die letzten Gemeinsamkeiten bis Ende 1921 ab. Danach war Wien der einzige „Stadtstaat“ der Republik, wobei der Bürgermeister auch Landeshauptmann, der Gemeinderat auch Landtag und das Magistrat auch Amt der Landesregierung wurde.
Dunkle Zeiten
Die kurze Zeit der Ersten Republik verlief dann relativ turbulent. Wien zeigte sich gegenüber den konservativen Bundesregierungen aufmüpfig, erlaubte sogenannte Dispensehen und ließ umstrittene Theaterstücke aufführen. Die damals errichteten Gemeindebauten wurden aus Wohnbausteuern finanziert, die man den Reichen abzwackte. In Vorarlberg wurde die Wiener Sozialarchitektur indes als „Wohnbaubolschewismus“ gebrandmarkt. Der Konflikt zwischen Links und Rechts erreichte mit dem Justizpalastbrand 1927 einen ersten Höhepunkt und gipfelte schließlich im Bürgerkrieg des Jahres 1934. Die Artillerie des Bundesheeres hinterließ tiefe Wunden bei Gemeindebauten und Sozialdemokratie. Trotzdem war das alles nur ein trauriges Vorspiel für den Hauptakt vom 12. März 1938. Der Spruch von Karl Kraus „Die Wiener sind ein leicht bewegliches Volk.“ bewahrheitete sich in all seinen Abgründen. Die Niedertracht mit der viele von heute auf morgen ihre Nachbarn, Kollegen und Arbeitgeber jüdischen Glaubens damals schikanierten und die Willfährigkeit mit der man sich dem neuen Regime anbiederte sucht jedenfalls ihresgleichen. Wien stand damit zwar keineswegs alleine da, war aber das Zentrum der österreichischen Selbstaufgabe. Der Heldenplatz liegt nun einmal hier und die dortigen Ereignisse erklären wohl auch die Aussage Thomas Bernhards in jedem Österreicher stecke ein Massenmörder.
Der folgende Krieg traf Wien massiv, wenn auch bei weite nicht so hart wie andere Städte. Am 12. März 1945 stürzte während eines der letzten Bombardements der am Albertinaplatz gelegene Philipphof ein und begrub über 300 Menschen unter sich.
Wien bleibt Wien
Der Krieg ging vorbei, die Wiener blieben die gleichen. Die Nullen standen und stehen, wie Kraus ebenfalls anmerkte, hier allzu oft vor den Einsern. Innovation ist nicht erwünscht, die Olympischen Spiele braucht man genau so wenig wie man die Expo gebraucht hat und überhaupt: Was ist schon die Welt gegen Wien? Auf Veränderungen reagiert man empfindlich, demonstriert aber nicht dagegen weil: „Es nutzt jo nix.“ Man darf sich gerne und laut aufregen, Veränderungen zu verlangen ist auch noch in Ordnung, solange man nicht gedenkt sie umzusetzen, denn: „Wo kumma ma denn do hin?“ Man bleibt höflich („Küss die Hand g'nä Frau“) solange es angemessen erscheint und zeigt penetranten Zeitgenossen („Schleichts eich es Gfraster!“) wo der Bartel den Most holt. Wer nicht nach Minderheit aussieht oder klingt, kann dafür in Wien ein recht angenehmes Leben führen. Infrastruktur, Kultur und Sicherheit sind Weltspitze, das lässt sich nicht bestreiten. Dafür werden aber sogar Vorarlberger hin und wieder als „scheiß Ausländer“ beschimpft. Nur Schlechtes von den Bewohnern dieser Stadt zu behaupten, würde ihnen aber dennoch Unrecht tun. Die Wiener sind anständige Leute, solange man von ihnen nichts anderes verlangt.
Wien besitzt als einziges Bundesland keine Landeshymne.
(Bildquelle: Commons)
