Reportage

Kauf dich glücklich?

Für Sieglinde hatten schöne Dinge immer einen besonderen Stellenwert. Heute ist die 57-Jährige schwer verschuldet, hat einen jahrelangen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik hinter sich. Kaufsucht hat jahrzehntelang ihr Leben bestimmt.


Heile Welt

„Ich habe meinem Mann oft neue Trainingsanzüge für die Klinik gekauft, damit alle denken 'Toll, und das trotz der Krankheit'.“ Das war Anfang der 80er Jahre. Ihr Mann stirbt an den Folgen seiner Krankheit und die Sucht wird schlimmer. Ständig kauft die junge Frau ein, für sich und die zwei Kinder. Jeder soll sehen, dass es ihnen gut geht. „Am Anfang war das explosiv, es hat Spaß gemacht. Ich habe ja auch gut verdient, da war das noch kein großes Problem.“ Es ist eine Suche nach Anerkennung, nach Respekt. Und so schleicht sich die Sucht langsam in ihr Leben, sie leidet unter starken Verlustängsten und zieht mit den Kindern zu den Eltern zurück.

Kaufsucht? Das gibt es doch gar nicht!

Die Lage spitzt sich zu, sie leiht sich zunehmend Geld, macht Schulden, kann aber nicht aufhören. Noch während der Arbeit denkt sie daran, dass sie „unbedingt noch etwas kaufen muss“. Sie versucht gegen das Verlangen anzukämpfen, leidet aber auch unter Entzugserscheinungen: Unruhe, der Kopf hämmert, die Hände schwitzen, bis hin zum Erbrechen. Immer mit der Ausrede „einmal darfst du noch“. Schließlich sucht Sieglinde aus freien Stücken therapeutische Hilfe auf. „Ich wollte ja unbedingt, dass es endet “. Doch sie stößt überall auf Unverständnis. Sie hört von vielen Seiten, dass sei „Trauerbewältigung“ und „das gehe von alleine wieder vorbei“. Das Problem bleibt. Sie wagt es nicht, mit Freunden oder der Familie zu sprechen, fürchtet noch mehr Verständnislosigkeit. Aus Scham versteckt sie die neuen Einkäufe in der Handtasche, wenn sie nach Hause kommt. Die Komplimente bleiben aus und das Lügenkarussell fängt an sich zu drehen. Ob das schon wieder neu ist? Nein, natürlich nicht. Sie erfindet Ausreden, um die Sucht zu rechtfertigen. Vor anderen und vor sich selbst. Niemand scheint nachvollziehen zu können, unter welchem Druck sie steht. Kaufsucht? Das gibt es doch gar nicht.

„Die Forschung steckt in den Kinderschuhen“

Sieglinde bekommt ernsthafte gesundheitliche Probleme mit dem Rücken, die sich zunehmend verschlimmern. Sie unterzieht sich mehreren Operationen, doch kein Arzt kann ihr sagen, woher das kommt. „Viele Betroffene leiden auch unter anderen Süchten oder psychischen oder physischen Erkrankungen, beispielsweise Essstörungen, Schlafstörungen oder Depressionen. Problematisch ist, dass Kaufsucht neben diesen Krankheiten oft als das kleinere Übel gesehen wird“, erklärt Frau Mag. Mazhar vom Anton-Proksch Institut in Wien. Das ist eine der wenigen Adressen hierzulande, wo man sich konkret mit dem Phänomen beschäftigt. „Die Forschung steckt noch immer in den Kinderschuhen“, konstatiert Mazhar, die als Klinische- und Gesundheitspsychologin hier tätig ist. Am Institut betreut sie seit drei Jahren eine „Kaufsuchtambulanz“. Gemeinsam mit einer Kollegin und einem Kollegen hatte sie sich schon länger intensiv mit dem Thema beschäftigt, 2010 wird eine ambulante Gruppe für Betroffene eingerichtet „einfach weil der Bedarf da war und Leute auch angefragt haben“. Zwei Jahre später werden die finanziellen Mittel gestrichen und die Gruppe im Zuge dessen wieder geschlossen. Die Nachfrage bleibt. Laut einer Gallup-Untersuchung sind etwa sieben Prozent der Gesamtbevölkerung kaufsüchtig, dies bleibt jedoch oft lange versteckt. 

Ein altes Problem

Man könnte also annehmen, dass es sich um ein modernes Krankheitsbild handelt. Schließlich leben wir doch heute im Zeitalter des grenzenlosen, barrierefreien Konsums. Dank des Internets muss man noch nicht einmal über die Schwelle der eigenen Wohnung treten, um sich materiell einzudecken. Ein Mausklick, die Eingabe einer Kreditkartennummer und die Bestellung ist unterwegs. Und genau in dieser Grenzenlosigkeit liegt die Gefahr der Sucht. Doch Kaufsucht ist keineswegs ein neues Phänomen. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts wird sie in den psychiatrischen Lehrbüchern Emil Kraepelins und Eugen Bleulers erwähnt, die als die Begründer der modernen Psychiatrie gelten. Bleuler stellt in seinen Lehrbüchern 1923 klar, dass der „leichtfertige Schuldenmacher“ nicht dieser Gruppe zugerechnet werden kann, „...das Besondere ist das Triebhafte, das Nicht-anders-können, das sich manchmal auch darin ausdrückt, dass die Kranken trotz guter Schulintelligenz vollständig unfähig sind, anderes zu denken, sich die unsinnigen Folgen ihres Handelns, und die Möglichkeiten, es nicht zu tun, vorzustellen.“

Böses Erwachen

Bei Sieglinde kommt der große Knall. In den schlimmen Jahren ihrer Kaufsucht häufen sich Gerichtsschreiben. Dann steht die Polizei vor ihrer Haustüre und nimmt sie mit ins Landeskrankenhaus. Aufgrund eines Sammelverfahrens der letzten zehn Jahre gibt es einen Gerichtstermin, es geht eine Rechnung in Höhe von damals 65.000 DM. Obwohl der Gutachter eine Unterbringung nicht für sinnvoll erachtet, soll Sieglinde drei Jahre in einem forensischen Spital verbringen. Sie legt keine Berufung ein. Hauptsache, jemand kann ihr helfen. Doch die Hoffnungen bestätigen sich nicht, sie bleibt insgesamt acht Jahre in der Klinik, aufgrund von Rückfällen wird der Aufenthalt immer wieder verlängert. Sie wird schließlich entlassen, da die Unterbringung unverhältnismäßig lang erscheint. Trauma. Und die lähmende Angst bei einem Fehltritt wieder „weggesperrt“ zu werden. Sieglinde kämpft mit denselben Problemen wie zuvor. Eine Gerichtsreporterin veröffentlicht dann die Geschichte ihrer 20-jährigen Kaufsucht. Die KIBiS, eine Kontaktstelle für Selbsthilfe, die in einigen Städten in Deutschland vertreten ist, klopft daraufhin bei der Betroffenen an und fragt, ob sie Interesse hat, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Sie traut sich.

Der AHA-Effekt

November 2002. Sieglinde sitzt staunend einer Frau gegenüber, die mit denselben Problemen kämpft wie sie, Tag für Tag. Aus den zwei, werden bald drei, vier, fünf. „Auf einmal waren da Menschen, die mich widergespiegelt und verstanden haben, wovon ich überhaupt rede.“ Und endlich die Bestätigung, dass sie kein Einzelfall ist. Sieglinde lernt durch die Gruppe ihre Probleme ganz neu zu reflektieren. Schließlich erzählt sie den Mitgliedern ihre ganze Geschichte. „Das war schon eine große Überwindung, ich habe mich dafür geschämt.“ Mehrere Betroffene, die bereits Kontakt zum Gesetz hatten, stoßen hinzu. Zurzeit besteht die Gruppe aus etwa 18 Mitgliedern. Manche fahren hunderte von Kilometern für die wöchentliche Sitzung. Manche kommen nur einmal und dann nie wieder. „Viele können anfangs nicht mit der Ehrlichkeit umgehen. Jeder, der unter dieser Sucht leidet, hat gelernt zu lügen und den Ernst der Lage zu verdrängen.“ 

Sieglinde versucht nicht die Vergangenheit zu vergessen. „Es ist jetzt so, wie es ist.“ Heute hat sie ihre Sucht unter Kontrolle: „Die Gruppe ist mein Lebenselixier. Der Aufhänger, der zeigt, dass es gut ist, was man tut.“


  • (c) Christoph Michels; Wiki Commons

Quellen

Hamburger Ärzteblatt 2009/08: Kaufsucht, eine Verhaltenssucht. 

Mazhar, Astrid (2012): Der Ruf der Einkaufsmeile.Ursachen, Diagnostik und Therapie der Kaufsucht. In: SPECTRUM PSYCHIATRIE, 2. Ausgabe.

www.kaufsuchthilfe.de