Reportage

Von Rumänien nach Frankreich: Ein Dorf zieht um

Bereits 2010 geriet die französische Regierung durch die Massenabschiebungen der Roma in kritische Schlagzeilen. Obwohl sich die sozialistische Regierung stärker um eine Integration bemühen will, scheint das Problem bis heute zu bestehen.


Es ist Ende März. In Lille, der nördlichsten Metropole Frankreichs hat es 5°C. Das sind normale Temperaturen hier für diese Jahreszeit. Die Sonne scheint und in der hübschen Altstadt tummeln sich gut angezogene Menschen in den Cafés und Boutiquen. Nur zehn Gehminuten von dieser Idylle entfernt, am Stadtrand, befindet sich der Winston Churchill Park. Auf einem Feldweg gelangt man in ein kleines Waldstück und befindet sich mitten in einem von mehreren Roma-Lagern, die sich im Großraum der Stadt befinden.

Das Dorf am Stadtrand

Insgesamt leben Schätzungen zufolge 15.000 bis 20.000 Roma in Frankreich. Sie sind oft in provisorischen Lagern untergebracht, die sich meist in den Ballungsgebieten von Großstädten befinden. Dieses hier macht eher den Eindruck eines kleinen Dorfes. Die aus alten Holzbrettern zusammen genagelten Hütten sind improvisiert, manche leben in alten Wohnwägen. Überall liegt Müll und Sperrmüll herum und mittendrin befindet sich eine Art See aus dreckigem Wasser. Sanitäre Anlagen gibt es keine. Eines der Zelte öffnet sich und der Kopf eines kleinen Mädchens schaut heraus. Als sie mich sieht, fängt sie aufgeregt an ihre Mutter zu rufen.

  • (c) Sarah Naegele

„Etwa 120 bis 130 Personen leben hier“

Schnell versammelt sich eine Gruppe Neugieriger. Unbekannte Gesichter tauchen selten im Lager auf. Alle sind sehr freundlich, aber können sich kaum verständigen. Nur zwei Männer und einige der Kinder hier sprechen französisch. Florim, ein 11-jähriger Junge erzählt, dass er mit seiner Familie hier wohnt. Auf die Frage, ob er zur Schule geht, nickt er und zeigt in Richtung Stadt „da drüben!“ 

 „Wir sind alle aus Rumänien hier her gekommen. Ein ganzes Dorf.“ erklärt mir Eugen, der zu den zwei „Sprechern“ gehört. Etwa 120 bis 130 Personen leben hier zusammen. Ganze Familien. „In Rumänien gab es überhaupt nichts für uns. Keine Arbeit, kein Geld.“ Eugen ist Anfang dreißig. Er gehört zu denen, die fast jeden Tag in die Stadt gehen, um zu betteln und in Mülltonnen nach Essbarem zu suchen. Eine reguläre Arbeit hat niemand aus dem Lager. Seit einem Jahr leben sie schon hier, doch die hygienischen Zustände sind katastrophal und stellen auf Dauer ein Gesundheitsrisiko dar. Dennoch würden sie gerne auf dem Gelände bleiben, „die Anwohnern sind nett und man ist gleich in der Stadt.“ Auf die Frage, wie sie sich ernähren können, antwortet Eugen nur: „Père Arthur“.

Ein Problem wird aufgeschoben

Père Arthur ist ein katholischer Priester. Seit Jahren setzt er sich für die Situation der Roma ein und hat sich unter anderem stark gegen die Abschiebungspolitik Nicolas Sarkozys ausgesprochen. Der ehemalige französische Präsident wurde unter anderem von der EU, der katholischen Kirche und Menschenrechtlern stark für sein hartes Vorgehen gegen Roma kritisiert. Doch auch die sozialistische Regierung unter François Hollande setzte diese Politik fort und räumte erst letztes Jahr eines der Roma-Lager um Lille. 200 Menschen wurden aus ihren Wohnwägen und Hütten verjagt. Es handelte sich hierbei angeblich um „freiwillige“ Abschiebungen, viele wurden jedoch dazu gedrängt. Übergangswohnungen wurden keine zur Verfügung gestellt. Oft kehren die Verdrängten bald zurück. In Lille fordert vor allem die grüne Partei „Europe Écologie Les Verts “ (EELV) vehement die sozialistische Bürgermeisterin Martine Aubry dazu auf, die Abschiebungen zu stoppen und in einen gemeinsamen Dialog zur Lösung des Problems zu treten.

Kein gewöhnlicher Priester

Père Arthur ist einer der wenigen, der regelmäßig in das Lager kommt. Jeden Tag bringt er Essen, räumt auf und hilft. Auf Wunsch der Eltern hat er auch schon einige Kinder getauft. Auf meinem Weg in die Stadt zurück kreuze ich den Weg von zwei Frauen und Männern, die eben das Lager verlassen hatten. Sie befinden sich auf dem Weg in die Innenstadt. Sie lachen mich an und grüßen und winken, bevor sie in der nächsten Gasse verschwinden. „Ein Fremder ist nur solange fremd, bis du ihn kennengelernt hast“, lautet eine der Philosophien Père Arthurs.