Reportage

Ivo sagt immer die Wahrheit

"Integration Wien" bietet mit der Freizeitassistenz ein einmaliges Projekt für junge Menschen mit Behinderung. Die Nachfrage ist groß, die Plätze sind begrenzt.


Ivo ist ein großer Bursche Anfang zwanzig, aber sein Händedruck ist zurückhaltend. Ein vorsichtiges „Hallo“, ein schüchterner Blick, dann steht er wieder bei Wolfgang, seinem Begleiter. Ivo nimmt das Angebot der Freizeitassistenz von Integration Wien in Anspruch. Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderung können dort, vor allem an Wochenenden und abseits ihres alltäglichen Familienlebens, Zeit mit ihren persönlichen Freizeitassistenten verbringen, die meist nicht viel älter sind als sie selbst. Derzeit werden 25 Plätze bei einem Selbstbehalt von sechs Euro pro Stunde angeboten, die Warteliste ist doppelt so lang.

Alle Zehne - oder nichts

Bei Ivo und Wolfgang steht heute Bowling auf dem Programm. Ivo soll mir die Spielregeln erklären. Langsam und leise erzählt er mir etwas und deutet dabei immer wieder auf die Bahn. Rund herum rollen Kugeln und fallen die Kegel, ich verstehe leider kein Wort. Während er spricht sieht er mir in die Augen und nestelt nervös mit seinen Händen herum. Bowling ist eine von Ivos liebsten Freizeitaktivitäten. Außerdem geht er gerne inlineskaten und interessiert sich für alles rund ums Thema Natur. Sein Begleiter erzählt, dass er fast ganze Wikipedia-Artikel über Pflanzen und Tiere auswendig erzählen kann. Manchmal rede er den ganzen Tag nur Englisch, sein Wortschatz sei dabei sehr gut. Trotz all seiner Begabungen zeigen sich bei Ivo immer wieder Züge von Autismus und einer Entwicklungsverzögerung. Manche Dinge fallen ihm einfach schwerer als andere. Es ist fast wie beim Bowling: einmal räumt er alle Kegel ab, dann wieder gar keinen. 

Schüchterne Wahrheiten

Manchmal beendet er laut Sätze, deren Anfang er nur gedacht hat. „Da bringen mich keine zehn Pferde hin…“ sagt er plötzlich, „… ist viel zu weit weg“. Ivo hat eine Vorliebe für Redewendungen und etwas antiquierte Worte. „Ich bin nicht dein Gefährte!“ entfährt es ihm zum Beispiel, wenn ihm ein Hund zu nahe kommt. Ivo mag keine Hunde. Eine Katzenzucht, so sagt er, könne er sich hingegen schon vorstellen. Zu Hause hat er einen Kater namens Moritz und er kichert als Wolfgang ihn daran erinnert, dass ich auch so heiße. Während er seine Kugeln auf die Bahn gleiten lässt, manchmal auch wirft, schaut er immer wieder schüchtern zu mir. Wenn er nicht trifft, zuckt er mit den Schultern. „Kann passieren“, sage ich. Ivo grinst und dreht sich einmal im Kreis. Früher wurde er in der Schule gemobbt, was sein schüchternes Wesen und die Introvertiertheit noch verstärkt hat. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er wie die meisten Autisten grundehrlich ist und damit hin und wieder Leute verprellt. Einer vollschlanken Frau lautstark eine Diät nahezulegen ist für Ivo keine Beleidigung, sondern ein gut gemeinter Ratschlag. Sein Freizeitassistent lächelt, wenn er davon erzählt. Von Ivo bekommt man grundsätzlich nur die Wahrheit zu hören.

Gender gap und lange Warteliste

Wolfgang ist 25 und Student - wie fast alle Begleitpersonen der Freizeitassistenz. Das Projekt wird von Licht ins Dunkel und der Stadt Wien unterstützt, trotzdem fehlt, wie bei so vielen Sozialprojekten, an allen Ecken und Enden Geld. Die Freizeitassistenz ist das einzige Angebot ihrer Art in ganz Wien. Die 25 Plätze, die derzeit angeboten werden können, wirken da schon fast lächerlich wenig. Die Klienten kommen aus allen sozialen Schichten und haben verschiedenste psychische Konditionen. Manche haben auch Mehrfachbehinderungen und sprechen kaum oder gar nicht. Um die Begleitpersonen, die in der Regel über keine spezielle Ausbildung verfügen, auf solche Fälle vorzubereiten und sie im Umgang mit Menschen mit Behinderung zu unterstützen, werden regelmäßig Coachings und Teammeetings, sowie bei Bedarf Einzelsupervisionen angeboten. Schwierigkeiten gab es in der Vergangenheit vor allem dabei, genug männliche Freizeitassistenten zu finden. Nicht jede Studentin kann im Notfall einen kräftigen Jugendlichen beruhigen, wenn gerade eine U-Bahn einfährt. Manche männliche Jugendliche sprechen auf Freizeitassistenten ihres Geschlechts auch grundsätzlich besser an. 

Ivo scheint mit Wolfgang jedenfalls zufrieden zu sein, auch wenn er beim Bowlen heute gewonnen hat. Bei ihrem nächsten Ausflug ins Naturhistorische Museum wird er wieder derjenige sein, der alle Zehne abräumt.


Foto: (c) Moritz Moser