Reportage

"Du Lügner"

Eine Telefonnummer, erhalten von einem fremden Mann auf der Straße, verspricht mir Arbeit und Geld. Ich habe keine Ahnung, wie die Tätigkeit aussehen wird oder wie viel ich verdienen werde. Oder, ob überhaupt jemand unter der Nummer erreichbar sein wird. Aber ich tippe die Ziffern in mein Mobiltelefon.


Meine Stimme überschlägt sich, wie damals als ich 14 Jahre alt und im Stimmbruch war. Das passiert mir öfters, wenn ich nervös bin. Und ich bin nervös, als ich die Telefonnummer wähle und mich eine Männerstimme fragt, wer denn da spreche. „Harald“, antworte ich und bin mir selber nicht im Klaren darüber, warum ich meinen wirklichen Namen nenne. Der Mann fragt mich, was ich denn wolle und woher ich seine Nummer habe. Ich erzähle ihm, dass ich auf der Straße gebettelt habe und von einem fremden Mann diese Kontaktdaten erhalten habe. „Aah, von Jehona, ich weiß“, sagt er und stellt sich als „Luan“ vor. Auf seine Frage hin, ob ich denn stark sei, antworte ich mit einem selbstbewussten „Ja“. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob Luan und ich die gleiche Vorstellung von Stärke besitzen.

Hamburg-Billbrook

Die Adresse, die ich erhalten habe, befindet sich in einem Gewerbegebiet im Osten Hamburgs und gehört zum Bezirk Hamburg-Mitte. Es handelt sich um eine kleine Lagerhalle, vor der mehrere LKWs stehen. Als ich durch das Eingangstor des Geländes gehe, habe ich ein ungutes Gefühl. Ich lasse meinen Blick schweifen, allerdings ist niemand zu sehen, also gehe ich auf die Laderampe zu. Ich warte einige Minuten an einen Lastwagen gelehnt, als sich plötzlich eine Tür der Halle öffnet und drei Männer heraustreten. Alle drei sind extrem klein und mittleren Alters. „Ju“, sagt einer von ihnen zu mir und versucht auch meinen Namen auszusprechen. Es will ihm nicht ganz gelingen. „ Ja, ich bin Harald“, antworte ich. „Du Lügner“, erwidert er. Ich bin etwas verwirrt und mein Unbehagen steigert sich. „Du siehst nicht stark aus“, führt er weiter aus und lacht. Die beiden anderen Männer stehen neben ihm und verziehen keine Miene. Meine Anspannung löst sich jedoch ein wenig. Luan reicht mir die Hand und erklärt mir, dass ich heute mit diesen beiden Männern zusammenarbeiten werde.

Ein LKW voller Reifen

Kurz und knapp befiehlt er uns, dass wir die Reifen aus dem einen Laster ausladen und in den anderen einladen sollen. Die Lastwägen sehen alt und schäbig aus und verfügen über keine Hebebühnen. Es handelt sich um zwei Mercedes 32-Tonner und somit um eine ganze Menge Reifen und Arbeit. Als ich einen Blick auf die Ladefläche werfe, sehe ich, dass es sich um Reifen verschiedener Größen handelt. Vom Motorradreifen bis zum LKW-Reifen scheint alles dabei zu sein. „Fangt an“, sagt Luan und kehrt ins Innere der Lagerhalle zurück. Die Verständigung mit meinen Kollegen ist etwas schwierig, da wir keine gemeinsame Sprache finden. Einer der beiden parkt die Fahrzeuge so, dass sie einander gegenüber stehen und die Öffnungen der Laderäume nur gut zwei Meter voneinander entfernt sind. Es dauert allerdings einige Minuten bis der Akt vollbracht ist und dieser  wird von lautem Fluchen des Fahrers und wilder Gestik des zweiten Mannes begleitet, der versucht als Einweiser zu agieren. Ich klettere auf den LKW der voll beladen ist. Marko und Ivo, so heißen die beiden Männer, so viel konnten wir kommunizieren, steigen auf die andere Ladefläche. Ich werfe Ivo die Reifen zu, er fängt sie und gibt sie an Marko weiter, der sie in den hinteren Teil des Lastwagens bringt. Continental, Pirelli, Dunlop, Vredestein und Pneumant – die Marken sind durchaus bekannt und die Reifen scheinen in einem unbenützten Zustand zu sein. Wir arbeiten schon eine ganze Weile, aber es will einfach nicht weniger werden. Nach einiger Zeit haben wir alle Auto- und Motorradreifen verbracht und es folgt der wirklich anstrengende Teil. Ganz hinten liegen mehrere LKW-Reifen samt Stahlfelgen. Ich erinnere mich noch an meinen Ferialjob als Möbelpacker. Als wir einmal einen solchen Reifen wechseln mussten, hat mir mein Chef damals erklärt, dass dieser um die 150 Kilogramm wiegt. Diese Information kommt mir nun wieder in den Sinn und ruft keine Freude hervor. Wir rollen, schieben und zerren an den Rädern und schaffen es auch irgendwie den 2-Meter-Spalt zwischen den beiden Lastern zu überwinden.

Einer geht noch

Wir sind fertig, in jeder Hinsicht. Die LKWs stehen wieder an ihren Plätzen und ich bin in Gedanken schon bei einem deftigen Mittagsessen. Luan kommt wieder aus der Lagerhalle und blickt auf seine Armbanduhr. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist. Ein Kleintransporter fährt auf dem Hof ein und stoppt vor uns. Der Fahrer und Luan begrüßen sich. Marko schnappt sich den Wagenschlüssel und deutet Ivo und mir, dass wir einsteigen sollen. Er fährt zu einem Gebäude, welches auf der anderen Seite des Areals liegt, parkt davor und öffnet das große Tor. Ivo und ich steigen ebenfalls aus. Es ist ein Hochregallager, das voll mit Autoreifen ist. Der Transporter ist es ebenfalls. Marko versucht mit seinen Händen deutlich zu machen, dass die Reifen in die Regale geordnet werden müssen. Ich blicke nach ganz oben und schätze, dass die Höhe an die zwölf Meter beträgt. Leiter ist weit und breit keine zu sehen. Gabelstapler natürlich auch nicht, dafür sind wir ja da. Ich klettere auf die erste Ablagefläche in etwa drei Meter Höhe. Dabei halte ich mich an den Metallpfeilern fest und ziehe mich nach oben. Marko deutet mir, dass ich weiter hinauf muss. Was nun folgt ist mehr Wahn als witzig. Ivo holt jeweils zwei Reifen aus dem Klein-LKW und bringt sie Marko. Dieser steht gut sechs Meter unter mir am Boden und versucht mir die Reifen zuzuwerfen. Es klappt mehr schlecht als recht. Wir brauchen pro Reifen etwa zwei bis drei Versuche, bis ich ihn fangen kann. Dies hat zwei Gründe. Einerseits wirft mein Kollege nicht sonderlich gut, andererseits habe ich Angst, dass ich bei dem Versuch den Reifen zu fangen, stürze und auf den Betonboden knalle. „Gotov“, ruft Ivo und ich klettere erleichtert und mit weichen Knien wieder von den Regalen herunter. 

Fischbrötchen

Luan kommt zu uns. Er hat einen kleinen Sack bei sich. Er zwickt mir in den Oberarm und sagt: „Doch nicht so schwach.“ Dabei lacht er wieder. Er drückt mir 30 Euro in die Hand und holt ein Fischbrötchen aus seinem Säckchen hervor. „Lass es dir schmecken und tschüss“, sagt er zu mir. Marko und Ivo geben mir die Hand. Noch während ich das Gelände verlasse, verschlinge ich das Essen. Ich hole mein Handy aus der Hosentasche, um nach der Uhrzeit zu sehen. 30 Euro für knapp zehn Stunden Arbeit. Ich fahre zu den Landungsbrücken, denn ich brauche noch ein Fischbrötchen.


  • (c) Harald Triebnig