Reportage
Von der Roten Flora zum Schwarzen Peter
Ich habe gebettelt, um Geld zu bekommen. Habe Autoreifen durch die Gegend getragen, gezerrt und geworfen. Jetzt bin ich auf der Suche nach einem Schlafplatz und die Suche führt mich zur Roten Flora im Hamburger Schanzenviertel und noch weiter.
Ein alter löchriger Schlafsack, den mir ein Mitbewohner geborgt hat und der nach Bier riecht und ein 1,5-Liter-Tetrapak gefüllt mit Rotwein, das sind meine Utensilien, die mich sicher durch eine Nacht zwischen Hamburger Obdachlosen bringen sollen. Ich trage meine alten Wanderschuhe und Wollsocken, außerdem ein T-Shirt und einen dicken Pullover aus der Altkleidersammlung, denn selbst im Mai sind die Nächte im Norden Deutschlands kälter als von mir erwartet. Bevor ich mein Studentenwohnheim verlassen habe, habe ich mir noch einmal den Wetterbericht für die bevorstehende Nacht angesehen. Sechs Grad und Nieselregen verheißen nichts Gutes.
Auf der Schanze
Es ist 21.07 Uhr als ich die U3 an der Station „Sternschanze“ verlasse – mein letzter Blick auf eine Uhr für die heutige Nacht. Ich gehe einige Minuten durch das Schanzenviertel vorbei an zahlreichen Restaurants und Bars. Viele, meist junge, Menschen sitzen auf den Bänken vor den Lokalen, obwohl es schon recht kühl und bereits dämmrig ist. Ich biege in die Susannenstraße ein und nach einigen Metern kann ich bereits das Gebäude, unter dessen Vordach ich die Nacht verbringen will, sehen. Die Rote Flora hat eine gelbe Fassade und diese ist voll mit Graffiti, Plakaten und Transparenten. Das Objekt war Teil des Floratheaters, wurde in den 80er-Jahren besetzt und bietet heute zahlreichen Obdachlosen eine Schlafmöglichkeit.
Auf den Treppen vor dem ehemaligen Eingang liegen einige Matratzen auf denen wiederum einige Menschen liegen. Ich nähere mich langsam. Es riecht nach Urin und Alkohol. Mir ist selbst nicht ganz klar, wie ich mich verhalten soll. Deswegen stelle ich mich vorerst etwas abseits von einer Gruppe von fünf Männern hin und beobachte die ganze Szenerie. Die Männer schenken mir keine Beachtung. Insgesamt zähle ich elf Personen die sich vor der Roten Flora aufhalten. Das Verhältnis zwischen Frauen und Männern ist unausgeglichen. Lediglich zwei Frauen sitzen gemeinsam auf einer Matratze und rauchen Zigaretten. Nach einer gewissen Zeit kann ich mich überwinden und ich spreche jemanden aus der Männer-Gruppe an. Der Mann trägt lange weiße Haare und einen weißen Bart. Er hat nur ein altes Hemd und Jeans an.
Auf meine Frage hin, ob es denn möglich sei, hier zu übernachten, blickt er mich kurz an und wendet sich dann wieder den anderen in seiner Runde zu. Ich setze mich auf die Stufen und warte weiter ab. Es vergeht eine ganze Weile, bis eine der beiden Frauen auf mich zukommt. Sie wirkt relativ gepflegt und ich schätze, dass sie zwischen 30 und 35 Jahre alt ist. Als sie mit mir zu sprechen beginnt, kann ich sehen, dass ihr alle Zähne ausgefallen sind. „Hab gehört, du willst hier schlafen. Ist keine gute Idee, die mögen keine Neulinge“, erklärt sie mir. Als ich wissen will, warum das so ist, zuckt die Frau nur mit ihren Schultern und geht wieder auf ihren Platz zurück.
Auf zu neuen Ufern
Da ich mich nicht recht wohl fühle, befolge ich den Rat und verlasse die Rote Flora. In den vergangenen Wochen bin ich abends immer wieder an einer Stelle vorbeigekommen, an der mehrere Menschen mit ihren Schlafsäcken übernachtet haben. Ich mache mich zu Fuß auf den Weg dorthin, durchquere dabei fast den gesamten Stadtteil St. Pauli und finde den Platz nahe dem Alsterfleet bald wieder. Im Gegensatz zu den vergangenen Tagen liegt diesmal nur ein einziger Mann in seinem Schlafsack unter dem Vordach eines Bürogebäudes. Da ich mir nicht sicher bin, ob er bereits schläft, nähere ich mich ganz leise. „Moin moin“, fährt es mir entgegen und der Mann in die Höhe. Ich stelle mich kurz vor und frage ob es in Ordnung ist, wenn ich mich auch hier hinlege. „Alles was keine Miete zahlt muss raus, aber heute mach ich mal eine Ausnahme. Bin der Peter, der schwarze Peter“, lacht er mich an.
Peter hat eine Glatze und einen schwarzen Bart und ist komplett schwarz gekleidet. Seine Kleidung ist sauber und nicht zerrissen oder durchlöchert. Waren die Damen und Herren an der Roten Flora doch recht wortkarg, ist Peter das genaue Gegenteil. Ohne große Umschweife fängt er an aus seinem Leben zu erzählen. In Hamburg geboren, vom Vater geschlagen, dann ins Kinderheim, Schule abgebrochen und nach Berlin abgehauen – „das volle Programm“ wie er selbst sagt. Zwischendurch biete ich ihm meinen Rotwein an. „Edler Tropfen“, scherzt Peter und begutachtet den Karton. Warum er denn jetzt wieder hier sei und nicht in Berlin geblieben ist, will ich von ihm wissen. „Dreißig Jahre reichen und außerdem ist Hamburg die schönste Stadt der Welt“, versichert er mir. Mit mittlerweile 52 Jahren sei er schon überall gewesen. Berlin, Budapest, Warschau, München, Rom und Barcelona, aber nirgends war es so schön wie zu Hause. Gearbeitet hat Peter nie: „Ich hab mich immer so durchgeschlagen, aber nie was Krummes gedreht. Wir Hamburger sind gerade Leute.“
Der Wein ist geleert und wie vorhergesagt setzt ein leichter Regen ein. Peter zeigt mir noch wie ich mich am besten hinlege, damit ich nicht nass werde und danach schlüpfen wir beide in unsere Schlafsäcke. „Danke für den Wein“, ist das letzte was ich höre, bevor ich einschlafe.