Analyse

Ein Land steht auf. Wegen ein paar Bäumen?

Die Proteste in der Türkei werden auf der Bühne der sozialen Medien ausgetragen. Menschen weltweit bekommen im Sekundentakt Infos über neue Gewalttaten. Eine türkische Studentin sitzt in Wien ununterbrochen vor ihrem Computer und erlebt die Geschehnisse.


Gül ist Architekturstudentin aus Istanbul. Sie verfolgt die Proteste über Social Media. So wie Millionen Menschen weltweit. Gleichzeitig verabreden sich die Demonstranten in Istanbul und anderen türkischen Städten über Twitter und Co.

Wir brauchen internationale Unterstützung von allen: NGO´s, EU, Tante Merkel und ein Wirtschaftsembargo. Wir wollen keinen Krieg. Wir wollen, dass Erdogan endlich aufhört zu lügen. Und dass er sieht, dass jedes Stadtgebiet der Türkei voll mit Menschen ist, die nicht mehr nur um Bäume kämpfen. Sondern gegen sein Ego und diese Brutalität! Was können diese Menschen getan haben, dass sie so eine Brutalität verdienen? Ich zittere gerade. Mir geht das so tief zu Herzen. Wir müssen etwas dagegen machen. Heute hat Erdogan eine Pressekonferenz gegeben und nur eine Journalistin war mutig genug zu fragen, warum er gegen sein Volk kämpft. Abends fangen die brutale Angriffe wieder an. In Ankara gibt es keinen Livestream. Es kommen so viele Meldungen, dass es dort unerträglich ist. In Izmir sollen sich noch schlimmere Szenarien ereignen: Flüchtlinge aus Syrien, die von Erdogan unterstützt werden, sollen sich in Fussballtrikots unter Leute mischen und dann greifen sie an. Diese Nachrichten kommen über Twitter. Sie sind nicht bestätigt. Ob sie stimmen? Ich bin mir nicht sicher. Es ist so brutal und muss aufhören. Man muss Erdogan bedrohen mit etwas, das für ihn mehr zählt als sein eigenes Volk. Ich bin so fertig. Meine Freunde sind da. Ich sitze nur vorm PC.“

Stolz und Politik

Gül hat die Proteste kommen sehen. "Die ganzen Probleme, die sich in den letzten zehn Jahren entwickelt haben, explodieren gerade." Aber dass es derart eskaliert, damit hat niemand gerechnet. Spätestens seit Neujahr kündigt sich an, dass Erdogan eine Politik betreibt, die mit Demokratie nicht mehr viel zu tun hat. In Istanbul, genauer am Taksim Platz, soll also ein neues Einkaufszentrum gebaut werden. "In Istanbul gibt es 200 Einkaufszentren. Wir brauchen das also nicht. Die Menschen brauchen Arbeit und Wohnungen. Wir sind eine Generation, die studiert hat. Wir lassen uns das nicht mehr gefallen."  

Aufschrei

Der Premierminister und seine Partei, die AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi), wollen sich durchsetzen. "Er treibt einen Keil zwischen die Bevölkerung. Die Älteren haben Angst, dass es diesen Links- und Rechtsdruck geben wird. Aber darum geht es uns nicht. Barbaren - so nennt man die Türken ja oft. Und jetzt: riskieren sie für Bäume ihr Leben. Jetzt gehen die Barbaren auf die Barrikaden." Erdogan fühlt sich bedroht und setzt massive Gewalt gegen sein Volk ein. Es gibt Tote und hunderte Verletzte. Ein Aufschrei geht durch das Land und durch das Internet. Vor allem auf Twitter können die Betroffenen ihrer Wut und Angst Ausdruck verleihen. In den Medien, vor allem in den nationalen, wird ein falsches BIld der Realität dargestellt: "Unser Land steht unter einer Medienzensur". Die sozialen Medien sind so wichtig, weil zum Beispiel Tränengas-Einsätze der Polizei schnell kommuniziert werden können. Die aktuelle Gefahr wird mitgeteilt.

Ausgewählte Tweets

  • Auch die großen Massenmedien erkennen die Kraft des Schwarms
  • In Städten, in denen Journalisten nicht präsent sind, wird Twitter zum Leitmedium
  • In deutschen Medien fällt die einseitige Berichterstattung auf

  • Dieser Massentweet ging durch das Netzwerk

Ruhe kehrt ein

In der Nacht zum 5. Juni hat sich die Lage, in Istanbul zumindest, beruhigt. Es gab viele friedliche Demos ohne Polizeiaufgebot. "Endlich haben sich wichtige türkische Persönlichkeiten hinter die Demonstranten gestellt. Und auch die Medien bewundern den Mut der jungen Menschen und berichten endlich die Wahrheit." Sie wenden sich ab von der Politik Erdogans. Türkei ist ein Land mit vielen Völkern. Im Moment herrsche eine Einheit: "Gezi hat es geschafft. Ohne Waffen." Der Zusammenhalt beeindruckt. Gemeinsam helfen die Demonstranten, eine Wasserkette zu bilden, um ein Feuer zu löschen. Am 5. Juni feiern die Muslime die Nacht der Himmelfahrt. "Heute soll ein Tag der Versöhnung werden. Wir wollen keinen Bürgerkrieg. Ganz im Gegenteil."

  • Am Dienstag friedlicher Protest in Gezi. Mit Büchern (Quelle: Facebook Ceyhun Kaa Karakas)
  • Während CNN Türkei eine Pinguindoku zeigte, war weltweit der Protest in den Medien schon ausgebrochen (Quelle: Facebook Kemalist Ariyoruz)
  • Cafes und Bars in Istanbul entschlüsseln ihr W-Lan. Demonstranten sehen auf der Karte den nähesten Hot-Spot
  • "Wir umarmen uns an dem Abend von Mohammeds Himmelfahrt" (Quelle:Facebook Nihal Senan)


  • (c) beigestellt

 

Gül ist 30 Jahre alt. Seit sieben Jahren lebt sie in Wien. Sie kam zum Studium nach Österreich. Sie will zurück in die Türkei. Das Land hat sich sehr verändert in den letzten Jahren, meint sie. Ihre Diplomarbeit schreibt sie über urbane Entwicklung: in Istanbul.

(c) Foto Startseite: Khalid Albaih