aus dem Sinn
Die heutige Jugend war gestern schon schlecht
Von Sokrates abwärts haben sich ältere Menschen seit jeher über die moralische Verkommenheit der Jüngeren aufgeregt. Niederhalten und anmotschgern haben sich im jahrtausendealten Generationenkonflikt scheinbar als die besten Rezepte bewährt.
Vor etwa 5.000 Jahren: Ein alter Babylonier schiebt den damals noch zukünftigen Untergang seiner Kultur der Jugend in die Schuhe.
399 v. Chr.: Sokrates kritisiert die Jugend seiner Zeit und damit deren Erzieher. Was heute Talkshowmaterial wäre führt damals zum Todesurteil.
1939: Hitler braucht die Jugend als Kanonenfutter, die läuft dem Rattenfänger trotzdem nach.
1945: Die Stunde null. Eine Generation baut das Land ganz alleine auf, dass sie es vorher zerstört hat steht nicht zur Debatte.
Die Schnelligkeit, mit der manche vergessen, dass sie nicht schon als Pensionsbezieher auf die Welt gekommen sind, ist erstaunlich. Ob man im 1A-Pelzmantelexpress durch die Wiener Innenstadt fährt, oder im Gemeindebauhof bejahrte Damen reden hört: Überall kommt die ältere Generation scheinbar mehrheitlich zum selben Schluss. Die Jugend ist selbstgefällig, arrogant und verkommen. Sie hat keinen Respekt mehr vor den Alten und wird die Errungenschaften von Generationen in Kürze ruiniert haben. So oder so ähnlich ließe sich wohl der Generalvorbehalt zusammenfassen, der oft gegen die Jugend als Ganzes – die eigenen Enkelkinder vielleicht ausgenommen – erhoben wird. Vermutlich ist das so, seit der erste Mensch alt geworden ist. Zumindest aber lässt sich die Kette von kollektiven Schuldzuweisungen an die nächste und übernächste Generation historisch weit zurückverfolgen.
Ein altes Lied
„Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten!“
Es hätte Weihbischof Laun sein können, oder der Generalobere der Piusbrüder, der sich so wutentbrannt über den sittlichen Verfall der Jugend äußerte. Tatsächlich könnte dieser Satz auch – sprachlich vielleicht etwas anders formuliert und abschließend mit einem „Geht’s scheißen!“ unterlegt – von fast jedem Hausbesorger in Wien stammen. Vom Autor dieses Zitates kennt man außer diesen aber nichts. Ein grantiger Babylonier hat es vor etwa 5.000 Jahren in eine Tontafel geritzt. Babylon ist zwar nachweislich untergegangen, die Jugend war daran aber wohl kaum alleine Schuld. Verantwortlich gemacht hat man sie in den folgenden Epochen aber für vieles.
Erziehung zum Alter
Ob Keilschrift oder Computerzeitalter: Die Verachtung für die nachfolgende Generation geht oft einher mit dem Aufruf sie ja solange in Knechtschaft zu halten, bis sie selber alt geworden und damit erst zum vollwertigen Menschenschlag geformt ist. Schon der alttestamentarische Prophet Jesus Sirach riet:
„Hast du Kinder, so halte sie in Zucht und beuge ihnen den Nacken von Jugend auf.“ Sir 7,23
Insbesondere in Österreich scheint das Niederhalten der Jugend System zu haben. Der Psychologe Erwin Ringel attestierte der heimischen Elternschaft eine eigentumsähnliche Einstellung zu ihrem Nachwuchs. Schon die hierzulande übliche Frage, wem ein Kind denn gehöre, spreche in dieser Hinsicht Bände. Das Gros der österreichischen Nationalneurosen, so Ringel in seinem Werk „Die österreichische Seele“, ließe sich auf die systematische Vernichtung kindlicher Selbstbestimmtheit zurückführen.
Umfragen hätten ergeben, dass die österreichischen Eltern vor allem drei Erziehungsziele hätten: Gehorsam, Höflichkeit, Sparsamkeit. Auch wenn unser Land hier eine, auf dem Gebiet der geistigen Entwicklung sonst eher ungewohnte, Vorreiterrolle einnimmt, die Kinderneurotisierung als Mittel zur Vernichtung des kreativen Individuums hatte und hat weltweit Konjunktur. Schon Mark Twain konstatierte, Erziehung sei nichts anderes als „organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend.“
Jugendkritik als Bumerang, oder wieso Sokrates sterben musste
Hier zeigt sich das Paradoxe an der jugendkritischen Haltung vieler älterer Menschen. Letztendlich haben sie selbst diese Jugend gezeugt und erzogen. Wer die nachkommende Generation generell kritisiert, offenbart damit eigentlich nur die eigene pädagogische Unfähigkeit. Jeder Stein, den man auf die Moral der Jugend wirft, trifft in Wahrheit das eigene Erziehungsmodell. Das wird vielen recht wurscht sein, solange sie es selber machen und nicht bemerken. Wehe aber einer stößt sie mit der Nase drauf. Ein besonderes Beispiel, wie sich diese Dialektik in Eigen- und Fremdwahrnehmung auswirken kann, ist das Leben und Sterben des Sokrates. Der Philosoph kritisierte die angebliche Verkommenheit der Jugend seiner Zeit scharf:
„Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“
Dennoch wurde Sokrates 399 v. Chr. angeklagt, weil er die Jugend verdorben habe. Sokrates war den Athenern mit seiner penetranten Klugscheißerei einfach auf die Nerven gegangen. Wer den Eltern ihre missratenen Gören vorhält, darf sich von diesen keinen Applaus erwarten. Über die eigenen Kinder schimpft man schließlich am liebsten selber. Im Verfahren gegen Sokrates entlockte dieser seinem Ankläger Meletos zwar noch die peinliche Aussage, alle Athener seien geeignet den Nachwuchs zum Guten zu erziehen außer eben Sokrates. Geholfen hat es dem antiken Pestalozzi aber nichts mehr. Am Ende wurde ihm von den vorgeführten Erziehungsberechtigten der Schierlingsbecher gereicht.
Die jungen Alten
Obwohl er die Jugend für faul und unhöflich hielt, hatte Sokrates aber auch Schüler aus dieser Altersgruppe. Das mag im Fall eines der größten Philosophen der abendländischen Geschichte verständlich sein, findet heutzutage aber auch bei weniger begabten Zeitgenossen Anwendung. Die Anfälligkeit der Jugend für falsche Propheten ist nicht unbedingt geringer als bei älteren Semestern. Ob sie sie nun in Scharen an der Ostfront verheizen wollen oder in Wirklichkeit nur Pensionistenpolitik machen: So manche junge Menschen wenden sich gegen ihre eigenen Interessen, selbst dann, wenn sie von der Mehrheit ihrer Altersgenossen getragen werden und sind eigentlich nur junge Alte. Die Gründe die dazu führen, dass Junge sich in den Dienst von Leuten stellen, die eigentlich überhaupt keinen positiven Zugang zu ihrer Generation haben, können dabei vielschichtig sein. Manche hatten die Ehre sich von Sokrates beschimpfen zu lassen, andere werden zum Beispiel Staatssekretär.
Die Jugend als Besitzstandsvernichterin
Auf die Jugend wird von den Alten aber nicht nur geschimpft, weil sie als lebender Beweis der eigenen Unzulänglichkeit herumläuft, sondern auch weil die vorhergehende Generation um ihr Erbe fürchtet. Die Angst um die Fortführung der eigenen Ziele und die Sicherung des Erreichten ist dabei groß. So gesehen kann jedes Umdenken der Jungen als Verrat an den Leistungen der Alten gewertet werden. Charakteristisch für den „die Jungen machen alles kaputt“-Reflex ist auch das Pochen auf Dank und Respekt, die man sich verdient zu haben glaubt. Wer einmal in der Öffentlichkeitsarbeit mit älteren Menschen zu tun hatte, wird den Halbsatz…
„Unsere Generation, die dieses Land aufgebaut hat…“
…wohl kaum mehr hören können. Symptomatisch wird dabei der eigene Erfolg glorifiziert, während man Negatives grundsätzlich ausblendet. Wer redet schon gern vom Zweiten Weltkrieg, auch wenn es ohne ihn gar keinen Grund zum Wiederaufbau gegeben hätte? Immerhin, so glauben manche mit Sicherheit zu wissen, wird die Kinder- spätestens aber die Enkelgeneration den sicheren Untergang bringen. Immerhin fehlen ihr Härte und Werte, auch wenn man die selber nur bei BDM und HJ gelernt hat. Hesiod, der phlegmatische, dichtende Sohn eines bankrottierten Kleinhändlers und Viehbauern aus Böotien, sagte den Untergang Griechenlands jedenfalls schon vor über 2.600 Jahren, lange vor der Erfindung der kreativen Buchführung, voraus. Die Schuldigen waren schnell ausgemacht. Aber selbst von einem der bedeutendsten antiken Poeten gibt es als Anklage nur einen Satz, der auch von jedem Weltkriegsveteran kommen könnte:
„Ich habe keine Hoffnung mehr für die Zukunft unseres Volkes, wenn sie von der leichtfertigen Jugend von heute abhängig sein sollte. Denn diese Jugend ist ohne Zweifel unerträglich, rücksichtslos und altklug. Als ich noch jung war, lehrte man uns gutes Benehmen und Respekt vor den Eltern. Aber die Jugend von heute will alles besser wissen.“
Es gibt ja auch noch nette Alte
Letztendlich wäre es ebenso ungerecht die Alten so zu pauschalieren, wie es oft genug mit den Jungen gemacht wird. In Wahrheit ist das Vertrauen in die Jugend (fast) so alt wie das Misstrauen. Wenn Jesus etwa in Matthäus 10,13 sagt: „Lasst die Kinder zu mir kommen“ ist das kein Fall für die Klasnic-Kommission, sondern ein Verweis auf Gleichrangigkeit und Vorbildcharakter des Nachwuchses. Und selbstverständlich gibt es auch heute noch Ausnahmen von den Stereotypen des grantigen Schrebergärtners – der mit der Schrotflinte Kinder wie Spatzen aus dem Kirschbaum vertreibt – und der verbitterten Aida-Kundin – die sich von einem zwanzigjährigen Niedriglohnopfer Cremeschnitten servieren lässt, während sie über die ausländischen Nachbarskinder schimpft. Es gibt tatsächlich Menschen, die alt sind und die Jugend trotzdem schätzen, oder sie zumindest nicht kritischer sehen als die eigene Generation.
Das fällt sicher nicht immer leicht, denn wenn man einmal alt ist, wird die Jugend zu einem fremden Land und die Überzeugung, dass das Gras auf dieser Seite der Grenze grüner ist, lässt sich allzu leicht vertreten. In der oft abschätzigen Kritik an den Jüngeren steckt nicht zuletzt aber auch Wehmut, um nicht zu sagen Eifersucht. Wenn etwa Salvador Dali meint, das größte Übel an der Jugend sei nicht mehr dazuzugehören, verweist er damit sarkastisch auf diese weitere Wurzel des Problems Generationenkonflikt. Sie findet sich auch in einem ähnlichen Zitat von Oscar Wilde wieder: „Die Jugend wird an die jungen Leute verschwendet.“ Das ist kurz gesagt das Los der alten Menschen: Sie bemerken, was sie früher alles versäumt haben und werfen es der heutigen Jugend vor. Hoffnung auf baldige Besserung besteht zumindest seit den letzten 5.000 Jahren keine.
„Nichts zeigt das Alter eines Menschen so sehr, als wenn er die neue Generation schlecht macht.“ Aldai Stevensen