Von Trümmerfrauen und schwulen Schauspielern
Jürgen Bauer zeigt in seinem Debütroman, dass es die kleinen Entscheidungen im Leben sind, die über die großen Dinge bestimmen. Der Generationenkonflikt zwischen seinen beiden Hauptfiguren Hanna und Michael löst sich während einer gemeinsamen Reise in die Vergangenheit auf
Sie weinte schließlich, als sie sich ein letztes Mal von ihrer Mutter verabschiedete, die sie so lange gepflegt hatte, und ihr einen Kuss auf die dünnen eingefallenen Lippen drückte. Nach dem Tod ihrer 100-jährigen Mutter begibt sich die Protagonistin Hanna auf eine Reise in die Vergangenheit. Ihr bisheriges Leben lang hatte sie ihren Blick immer nur nach vorne gerichtet. Melancholie war ihr fremd. Doch plötzlich zeigt sich die gealterte Frau dazu bereit, aufgeschobenen Fragen nachzugehen und vergangene Entscheidungen zu hinterfragen.
Roadtrip und Generation Clash
„Johannes besuchen. Ein letztes Mal. Ich habe dir von ihm erzählt, erinnerst du dich? Ich traue mich nicht, alleine zu fahren.“ Nachdem ihre Tochter sich nicht dazu bereit erklärt, sich mit ihr auf Identitätssuche zu begeben und sie nicht auf ihrem Weg ins entfernte Bayern begleiten will, findet Hanna in Michael einen Beifahrer, der selbst auf der Suche ist. Wonach weiß er jedoch nicht genau. Für den arbeitslosen Schauspieler ist nach der Trennung von seinem langjährigen Partner gar nichts mehr klar, nicht einmal seine eigene Sexualität. Sein Hang zum unglücklich sein nimmt ihm jegliche Chance auf funktionierende Beziehungen. Als sich Hanna und Michael allerdings beim Speed-Dating kennenlernen, entsteht zwischen den beiden eine spezielle Verbindung. Die anfänglichen Befürchtungen des Lesers, dass daraus eine heitere Liebesgeschichte mit den üblichen Widrigkeiten von generationsübergreifenden Paaren entsteht, zerstreuen sich Gott sei Dank recht schnell. Die Protagonistin, die nach dem Zweiten Weltkrieg damit beschäftigt war der nächsten Generation eine bessere Zukunft zu ermöglichen, wobei ihre eigenen Kinder auf der Strecke blieben, und der Schauspieler, der damit beschäftigt ist, auch im Privatleben eine Rolle zu spielen, woran seine Beziehung zerbrach, erkennen, dass sie einander von Nutzen sein können. Denn als Michael bemerkt, dass er Hanna bereits aus seiner Kindheit kennt, glaubt er daran, dass sie ihm Fragen nach seiner verschwundenen Mutter beantworten kann.
Rückkehr zum Glück
Verschwunden war auch Hanna, nämlich aus dem Leben von Johannes. Nach den Wirren der Nachkriegszeit hatten sie sich jahrzehntelang nicht gesehen. Als sie nach so langer Zeit wieder auf seinem Bauernhof in Bayern auftaucht und Michael im Schlepptau hat, ist Johannes verwirrt und doch glücklich. „Du bist zurückgekommen, weil in unserem Alter sowieso alles egal ist“, wirft er seiner Jugendliebe vor. „Ich bin zurückgekommen, weil in unserem Alter nichts mehr egal ist“, entgegnet sie ihm. Der gemeinsame Aufenthalt in der ländlichen Idylle macht besonders dem Schauspieler klar, dass es im Leben an Entscheidungen bedarf und dass wenn man sich entscheidet, man immer auch etwas aufgibt.
Jürgen Bauer zeigt mit seiner einfachen und feinfühligen Sprache, wie kompliziert das Leben sein kann und dass das Richtige nicht immer das Wahre ist. Wie wichtig die richtigen Fragen sind und dass es bei Entscheidungen kein Richtig und kein Falsch gibt. „Fenster zur Welt“ ist zwar kein typsicher Generationenroman, aber viel lesenswerter als viele von diesen.
Autor
Jürgen Bauer
geboren 1981, lebt in Wien. Im Rahmen des Studiums der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien, Amsterdam und Utrecht spezialisierte er sich auf Jüdisches Theater und veröffentlichte hierzu zahlreiche Artikel und Buchbeiträge. 2008 erschien sein Buch No Escape. Aspekte des Jüdischen im Theater von Barrie Kosky.
Seine journalistischen Arbeiten zu Theater, Tanz und Oper erscheinen regelmäßig in internationalen Zeitungen und Zeitschriften. Jürgen Bauer nahm mit seinen Theaterstücken zwei Mal am Programm »Neues Schreiben des Wiener Burgtheaters« teil. Das Fenster zur Welt ist sein Debütroman.
- (c) Harald Triebnig