Reportage
Die Diversität der Armut
Luxemburg ist der reichste Staat in Europa und zählt auch im weltweiten Vergleich zu den Wohlhabendsten. Kaum jemand assoziiert Begriffe wie Armut oder Arbeitslosigkeit mit dem Großherzogtum. Trotzdem bleibt das Land nicht gänzlich von sozialen Problemen verschont.
„Yes, we are poor“, sagt Michel M. Er sitzt mit seiner Frau Chantal im Sozialmarkt des Roten Kreuz’ in Grevenmacher, Luxemburg. Das Ehepaar sieht auf den ersten Blick nicht so aus, als ob es von Armut betroffen wäre. Die Beiden sind gut gekleidet und Chantal trägt dezenten Schmuck.
Arm ist nicht gleich arm
Luxemburg gilt laut Statistischem Amt der Europäischen Union (Eurostat) als reichstes Land unseres Kontinents. Die Kaufkraft war 2012 doppelt so hoch wie in Österreich. „Die Armutsgefährdungsquote ist bei uns allerdings ähnlich hoch, wie in Österreich oder Deutschland“, erklärt Marc Crochet, Direktor des Roten Kreuz’ Luxemburg. 14,5 Prozent der Luxemburger verfügen also über weniger als 60 Prozent des nationalen medianen verfügbaren Äquivalenzeinkommens nach sozialem Transfer. In Österreich sind es 12,1 Prozent und der EU-27-Schnitt liegt bei 16,4. Da das Einkommen in Luxemburg generell höher ist, steht auch armutsgefährdeten Personen mehr Geld zur Verfügung als in anderen Ländern. Allerdings sind die Lebenserhaltungskosten auch deutlich höher. „Es verhungert bei uns niemand“, relativiert Crochet. Armut bedeutet aber auch in Luxemburg einen Ausschluss aus der Gesellschaft. Eine Erfahrung die Michel und Chantal M. machen. „We live in a small town. People point with the finger at us and change the side of the road, if the pass us“, so Michel. Darum kommen die Zwei auch fast täglich in den Sozialmarkt in der 4500-Einwohner-Stadt nahe der deutschen Grenze. Dort können sie nicht nur verbilligte Produkte einkaufen, sondern auch soziale Kontakte pflegen.
2013 wurden zwei neue Sozialeinkaufläden eröffnet. Acht gibt es somit mittlerweile in ganz Luxemburg. Sechs werden vom Roten Kreuz betrieben und die restlichen zwei von der Caritas. In Grevenmacher kaufen über 80 Familien in dem Markt ein. Die Warenpreise entsprechen in etwa einem Drittel des regulären Marktpreises. „Eine weitere Eröffnung im Süden des Landes steht kurz bevor. Außerdem versuchen wir gerade Second-Hand-Läden für Bekleidung in den bestehenden Sozialmärkten zu integrieren“, erklärt Elena Bienfait, die für die Koordination der Lebensmittelhilfe beim Roten Kreuz zuständig ist. Finanziert werden diese größtenteils durch Spenden. Rund 60.000 bis 80.000 Euro werden pro Jahr und Standort benötigt. Die Mietkosten übernimmt die jeweilige Gemeinde.
Mehr als eine Straßenzeitung
Das Rote Kreuz arbeitet in Luxemburg eng mit der Stëmm vun der Strooss zusammen. Die gemeinnützige Organisation verfolgt zwei Hauptziele: soziale und professionelle Reintegration. Denn auch in Luxemburg steigt die Arbeitslosigkeit. Laut Eurostat betrug die saisonbereinigte Jugendarbeitslosenquote im Oktober 2013 18,7 Prozent und war damit doppelt so hoch wie in Österreich (9,4). Im Zuge der professionellen Reintegration wurden im Jahr 2012 rund 125 Personen in drei Häusern beschäftigt. „Wir sind eine offene Struktur, die für alle zugänglich ist“, sagt die Direktorin Alexandra Oxacelay. Menschen mit Alkohol – und Drogenproblemen finden dort ebenso Hilfe, wie psychisch Kranke und Leute die aus dem Gefängnis entlassen wurden. Die Aufgaben sind dabei ganz unterschiedlich. Die Einen waschen Bekleidung für Sportvereine, die Anderen bereiten die Mahlzeiten für die Essensausgabe zu und wieder Andere arbeiten in der Kleiderstube, in der sich sozial Benachteiligte einkleiden können. „Die Leute sind aber auch in der Redaktion unseres Straßenmagazins tätig“, erklärt Oxacelay. Das Magazin heißt ebenfalls Stëmm vun der Strooss und erscheint fünfmal im Jahr. Die 6.000 Stück starke Auflage wird für 15 Euro im Abonnement verkauft und gratis an Schulen, Krankenhäusern und Gemeinden verteilt. Die Menschen haben aber nicht nur die Möglichkeit die Tagesstruktur der Organisation zu nutzen, um dort eben zu arbeiten, zu essen und sich einzukleiden, sondern es werden auch Übernachtungsmöglichkeiten für Personen ohne festen Wohnsitz geboten. 15 Wohnungen stehen dafür in der Stadt Luxemburg zur Verfügung.
- Stëmm vun der Strooss in Luxemburg Stadt
- Nathalie in der Redaktion des Magazins
- Patrick bereitet das Essen zu
- Stanislas arbeitet in der Kleiderkammer
Bunte Klientel
Schlafplätze für Obdachlose stellt auch Abrigado zur Verfügung. 42 Betten befinden sich in einem provisorischen Containerkomplex nahe dem Bahnhof der Hauptstadt. Eigentlich handelt es sich um eine kombinierte Tages- und Übernachtungseinrichtung mit angeschlossenem Drogenkonsumraum, für volljährige Drogengebraucher. „Wir nehmen aber auch Leute über Nacht auf, die zwar kein Drogenproblem haben, aber trotzdem nicht wissen, wo sie hin sollen“, so der Direktionsbeauftragte Patrick Klein. Neben den Schlafplätzen gibt es Drogenkonsumräume, sowohl für den intravenösen als auch für den inhalativen Konsum, ein Kontaktcafé, Sanitäreinrichtungen und ein Arztzimmer. „Unsere Klientel ist ganz unterschiedlich. Manche kommen nach der Arbeit im Anzug und tauschen nur schnell ihre Spritzen und andere wiederum verbringen ihren gesamten Tag hier“, erklärt Klein. Zwischen 200 und 300 Personen kommen täglich zum Spritzentausch. An Spitzentagen werden an die 1.000 Stück steril verpackter Nadeln ausgehändigt, um eine sichere Konsumation zu ermöglichen und die Ansteckungsgefahr zu minimieren. Laut Europäischen Drogenbericht 2013, der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA), wurden in Luxemburg im vergangenen Jahr 246 858 Spritzen im Rahmen von Spezialprogrammen getauscht. Die Schätzung in Bezug auf problematischen Opioidkonsum ergab, dass auf 1.000 Luxemburger 5 bis 7,6 Fälle kommen. In Österreich sind es 5,2 bis 5,5 Fälle. „Da wir uns auf zwei Transitrouten befinden, bleiben viele Drogen im Land hängen. Außerdem ist Luxemburg sehr genau, wenn es um die Aufzeichnungen für den Europäischen Drogenbericht geht“, sagt Patrick Klein. Um die Daten zu erfassen, werden anonymisierte Interviews mit Drogenabhängigen geführt.
- Behälter für verwendete Spritzen
- Verteilte Utensilien
- Platz für den intravenösen Konsum
- Schlafraum bei Abrigado
- Dieser Artikel ist in Kooperation mit "eurotours 2013" entstanden.