Istanbul
Sonntagsausflug
Während die kurdische Minderheit in Istanbul das Neujahrsfest feiert, wird der türkische Premierminister wenige Kilometer entfernt von jubelnden Massen empfangen.
Am Sonntag (23.03.14) habe ich mit Freunden Newroz (kurdische Schreibweise), zu deutsch Neujahr, welches Perser, aber auch Kurden und viele Menschen, die sich anderen Völkern oder Gruppen zugehörig fühlen, zelebrieren, gefeiert. Der Weg zur Festwiese zieht sich etwas, da die Metro mehrere Male stehen bleibt und alle Insassen aufgrund eines technischen Defekts aussteigen und auf den nächsten Wagen warten müssen. Für einige der Kurden ist klar: Alles ein abgekartetes Spiel der Regierung, da diese eine Versammlung der kurdischen Bevölkerung vermeiden wolle.
Hippiefestival
Als wir uns letztendlich doch dem Veranstaltungsort nähern, beginnen einige Menschen, sich Schals, Tücher, Armbänder und Kordeln in den Farben rot, gelb und grün umzubinden. Dies sind die Farben der Exilkurden. Lustige Anekdote meines Chefs hierzu: Eine Zeit lang war es komplett verboten (und ist immer noch nicht geduldet), diese Farben zu tragen. Er erzählt mir von einem Mann, der verhaftet wurde, weil er ein T-Shirt mit der kamerunischen Flagge darauf trug. Ich fühle mich, als würde ich auf eine Reggaeparty fahren. Ganz falsch sollte der Gedanke nicht gewesen sein.
- Impressionen von Newroz
Als wir die Polizeiabsperrungen passiert, uns abgetastet und unsere Taschen durchsucht lassen haben, offenbart sich ein Spektakel, welches an ein riesiges – wenn ich das so verallgemeinernd sagen darf – Hippiefestival erinnert. Es leben mehr als 3 Millionen Kurden in Istanbul, sicherlich sind nicht alle anwesend, sicher sind nicht alle Anwesenden kurdischer Abstammung, doch es gibt weit mehr Menschen, als das Auge reicht. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung, überall wird Musik gespielt, gesungen, auf dem Boden gesessen, Selfies werden geschossen und es wird vor allem getanzt. Rumstehen und blöd schaun ist nicht: Von einer Seite zieht mich mein Kumpel am Ärmel, hakt sich bei irgendeinem Grüppchen zu seiner Rechten ein, bei mir zur Linken. Da drehen wir uns nun alle im Kreis, wackeln mit dem Oberkörper, der sich leicht nach vorne und hinten beugt, und was ich mit den Füßen mache, kann ich auch nicht genau sagen. Nach keiner Minute sieht mich ein etwa vierjähriges Mädchen mit großen Augen an, nimmt meine Hand und tanzt mit. Spätestens jetzt habe ich das beschämte „Ohje ich kann das doch gar nicht!“ - Gehabe abgeworfen und gebe mich dem Tanz hin.
Das Ganze sieht dann ungefähr so aus:
Neben der bunten und traditionellen Kleidung sieht man vor allem kurdische Flaggen, Flaggen der HDP („Demokratische Partei der Völker“) und am häufigsten gelbe Flaggen mit dem Gesicht Abdullah Öcalans darauf. Der Gründer der PKK sitzt seit 1999 hinter Gittern auf der türkischen „Gefängnisinsel“ Imralı, welche sich im Marmarameer befindet. Er ist für viele Kurden die Hoffnung auf Befreiung, auf ein eigenes Land, auf Frieden. Auch in Deutschland gilt er als Terrorist, weswegen ich von sowohl türkischen als auch deutschen Kollegen / Bekannten wenig positives Feedback auf die Schilderung meines Sonntagsausfluges erhalte.
Nur eine Marmaraystation (das ist die letzten Oktober eingeweihte Bahn, welche unter dem Bosporus durchfährt) entfernt, tritt der Ministerpräsident vor mindestens genausovielen Menschen auf. Trotz Abschaltung Twitters, Polizeigewalt und Korruption wird er laut umjubelt.
Wer hier in Istanbul eine Zeitung aufschlägt, einen großen Platz betritt oder den Fernseher anschaltet, sieht sein Gesicht. Es scheint sich also in den letzten vier Tagen bis zur Wahl wenig zu ändern. Dennoch höre ich immer wieder, dass seine Beliebtheit nachlässt. Dass er in den ersten Jahren seiner Amtszeit „aufgeräumt“ habe, sei ja schön und gut, Muslime, die sich von den Kemalisten unterdrückt gefühlt hatten, konnten freier ihren Glauben ausleben, nichtsdestotrotz gebe es immer mehr Menschen, die sich anderen Parteien zuwenden, da „genug einfach genug“ sei. Genaues hierüber zu sagen ist sehr schwierig, es fehlen die Quellen, die Kontakte. Es bleibt, auf das Ergebnis der Wahlen am 30.3.14 zu warten...