Vier-Mäderl-Haus

In Gudrun Büchlers Debütroman „Unter dem Apfelbaum“ nimmt der Erzähler den Leser mit auf die Reise durch vier weibliche Generationen einer Familie, die das Schicksal immer stummer werden lässt.


Gleichmäßig klopfte es dumpf gegen die Wand aus dem Nachbarzimmer. Die Glatzköpfige morste wieder. Manchmal war ich überzeugt, sie wusste von mir und meinem Dilemma. Der Erzähler berichtet von einer ganz gewöhnlichen Nacht aus dem Leben von Milla. Milla ist Teil der jüngsten Generation der im Buch beschriebenen Familie und seit ihrer Geburt taub und stumm. Deswegen wird sie von ihren Eltern in ein Heim für behinderte Jugendliche gebracht. Dort erlebt Milla Übergriffe auf andere Bewohner und wird auch selbst misshandelt. All diesen schockierenden Erlebnissen entgegnet sie nur mit einem Summen – mal leiser, mal lauter.

Hunde und Drachen

Schon Millas Urgroßmutter Magda ereilte ein ähnliches Schicksal. Sie wird im Alter von zehn Jahren auf einen anderen Bauernhof gegeben, da es daheim zu wenig Platz und nicht genug Essen für alle gibt. In ihrer neuen Bleibe muss sie hart arbeiten und hat niemals die Chance als Familienmitglied der wohlhabenden Hofbesitzer akzeptiert zu werden. Als Magda zu Weihnachten von ihrem Vater abgeholt wird, um gemeinsam das Fest zu feiern, erfährt sie, dass ihre Mutter Nachwuchs erhalten hat. Das Mädchen ist zu tiefst verletzt und spricht immer weniger. Der Hund der reichen Bauernfamilie ist ihr engster Vertrauter. Sie nennt ihn Drache und flieht in ihren Träumen und Vorstellungen gemeinsam mit ihm vom Hof.

„Du bist doch auch ein Drache“, sagt Magda zu ihrem Hund Senna, als sie Jahre später kurz vor der Geburt ihrer Tochter Mathilda steht und sie sich wieder woandershin wünscht, da sie mit ihrem Sohn alleine zu Hause ist. Als ihr Mann heimkommt, findet er seine tote Frau und seine neugeborene Tochter.

Krieg und wenig Frieden

Zwischen Magda und Milla liegen zwei weitere Generationen. Und auch sie werden gegen ihren Willen fortgeschickt. Mathildas Vater bringt sie auf eine Schule für landwirtschaftliche Berufe und Jahre später muss sie Selbst ihre Tochter Marlies wegschicken, da die Front des Zweiten Weltkrieges und ihre Gräuel immer näher rücken. Der Erste öffnete seine Hose, während ein Zweiter Mathilda ihre auszog und lachte. Da war es wieder, dieses Lachen, sie spuckte ihn an, es konnte schlimmer sein, beschloss sie, überließ ihnen ihren Körper und machte sich auf die Suche nach ihren Kindern. Während der Mutter am Hof solch Schreckliches wiederfährt, ergeht es der Tochter auf der Flucht nicht besser. Die Folgen der Ereignisse nimmt sie mit in ihr Eheleben: ... ihr Unterleib kannte diesen Schmerz seit jener Nacht in der Scheune, wurde einmal im Monat daran erinnert und bei jedem Mal, wenn sich Walter auf ihn legte. Marlies kann mit ihrem Ehemann nicht darüber sprechen, weil er sie mit ihren Problemen alleine lässt – auch mit der stummen Tochter. Als er unerwartet verstirbt, ist Marlies endgültig verlassen. Mathilda spricht aus Scham nicht mit ihrem Mann über die Dinge, die am Hof passierten, während er im Krieg war. Außerdem macht sie sich selbst Vorwürfe, weil sie ihre Kinder wegschicken musste und ihr Sohn die Flucht nicht überlebte.


Stumme Frauen - sprechende Schocks

Es sind verschiedene Ereignisse, die die Frauen in Gudrun Büchlers Roman allmählich verstummen lassen. Alle eint, dass es sich um ein Ausgeliefertsein handelt. Die Protagonistinnen sind mit Situationen konfrontiert, die sie sich selbst nicht ausgesucht haben. Ihre Reaktion darauf ist ein Schweigen, das von Generation zu Generation ausgeprägter wird. Ein ständiger Begleiter in das Wortlose ist der Erzähler. Er kann als allegorische Figur des Schocks verstanden werden, der durch ihn erst richtig zum Ausdruck gebracht wird, weil es die Frauen im Roman nicht können und sprachlos werden.

Gudrun Büchler gelingt es durch den Einsatz ihrer feinfühligen Sprache, den Leser immer in die vorherrschende Situation hineinzuversetzen. Dabei ist es egal, ob es sich um das Heim für behinderte Jugendliche oder um die Wirren des Zweiten Weltkrieges handelt. Büchler gibt vier Generationen von Sprachlosen eine Stimme, die man gerne hört.


Gudrun Büchler wurde 1967 in Mödling bei Wien geboren und lebt auch dort. Sie absolvierte 2008/09 die Leondinger Akademie für Literatur und veröffentlichte bislang zahlreiche Kurzgeschichten in Anthologien und Literaturzeitschriften. "Unter dem Apfelbaum" ist ihr Romandebüt.

  • (c) Harald Triebnig